Das SCHÖMER-HAUS – vor mehr als 20 Jahren von Heinz Tesar als Bürogebäude und Ausstellungsraum der Sammlung Essl entworfen
– verwandelt sich heute abend wieder einmal in eine Kathedrale der Neuen Musik, in der gleich zwei Kompositionen zum allerersten
Male erklingen: Detlev Müller-Siemens’ Kommos – ein Auftragswerk der Sammlung Essl – und Kykloi des in Berlin lebenden amerikanischen
Komponisten Sidney Corbett.
Beide Kompositionen beziehen sich auf griechische Mythologien und stellen dabei die alte, aber immer wieder aktuelle Frage
nach dem Verhältnis von Zeit und Raum. Diese beiden Aspekte sind auch das zentrale Thema des französischen Komponisten Gérard
Grisey, dem während des heurigen Festivals WIEN MODERN ein eigener Schwerpunkt gewidmet ist und der in Vortex Temporum einen
„Zeitenwirbel“ virtuos in Szene setzt.
Ich freue mich sehr, das Ensemble Reconsil erstmals im SCHÖMER-HAUS zu Gast zu haben, das den Abend gemeinsam mit den beiden
Solistinnen Rita Balta (Sopran) und Kaori Nishii (Klavier) sowie dem Dirigenten Roland Freisitzer bestreiten wird.
Karlheinz Essl Univ.-Prof. Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant der Sammlung Essl
PROGRAMM
Sidney Corbett: Kykloi (2009) - UA
nach einem Text von Barbara Köhler für Sopran und Ensemble
Detlev Müller-Siemens: Kommos (2009)
für großes Ensemble
Kompositionsauftrag der Sammlung Essl - UA
Gérard Grisey: Vortex Temporum I-III (1996)
für Klavier und 5 Instrumente
AUSFÜHRENDE
Ensemble Reconsil (Wien)
Flöte: Alexander Wagendristel
Oboe: Helene Kenyeri
Klarinette: Thomas Schön
Fagott: Robert Gillinger-Buschek
Horn: Péter Keserü
Trompete: Peter Travnik
Percussion: Christian Pollheimer
Klavier: Judit Varga
Violine: Bojidara Kouzmanova
Violine: Thomas Wally
Viola: Julia Purgina
Violoncello: Maria Frodl
Violoncello: Mara Kronick
Kontrabass: Barbara Tanzler
Kaori Nishii: Klavier
Rita Balta: Sopran
Roland Freisitzer: Dirigent
WERKEINFÜHRUNGEN
Sidney Corbett: Kykloi (2009)
Die Komposition dieses Werkes wurde von Detlev Müller-Siemens und Roland Freisitzer angeregt und ist für die Sopranistin Rita
Balta und das Ensemble Reconsil anlässlich des Festivals Wien Modern 2009 entstanden. Der Text wurde von der Dichterin Barbara
Köhler, mit der ich seit einigen Jahren zusammenarbeite, eigens für dieses Werk geschrieben. Ausgangspunkt sind Passagen aus
Gesängen der Odyssee von Homer, bzw. die entsprechenden Passagen in Köhlers Buch, niemandsfrau. «Kykloi» ist das griechische
Wort für Kreise, im Fall meines Werkes Zeitkreise.
Die Texte Barbara Köhlers haben was ich polyphone Tragweite nennen möchte: die Worte strecken sich sowohl in die Zukunft als
auch über die Erinnerungen in die Vergangenheit aus, bilden ein Netz von Querverweisen untereinander, so dass über Mehrdeutigkeit
und Assoziation eine Art mehrdimensionales, polyphones Gebilde entsteht.
In meinem Werk habe ich nun diese Polyphonie reduziert, oder vielleicht eher destilliert. In gewisser Weise kann das Orchester
als eine polyphon gestimmte Trommel verstanden werden.
Sidney Corbett
Detlev Müller-Siemens: Kommos (2008/2009)
Kommos (= Klagegesang in der altgriechischen Tragödie, der abwechselnd von einem Schauspieler und dem Chor vorgetragen wurde), komponiert
2008/09, entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen struktureller Verdichtung und Zerfall, zwischen gleichsam skulpturaler Präsenz
und einer fast vollständigen Auflösung jeden Zusammenhangs, zwischen chorischem Klang, der sich im Raum zusammenballt und
fragmentierten Einzelstimmen, die im Leeren schweben. Kommos ist eine Auftragskomposition der Sammlung Essl.
Detlev Müller-Siemens
Gérard Grisey: Vortex Temporum (1995/1996)
Der Titel Vortex temporum («Zeitenwirbel») bezeichnet die Entstehung einer Formel aus sich drehenden und sich wiederholenden Arpeggi und ihre Metamorphose
in verschiedenen Zeitfeldern. Ich habe hier versucht, einige meiner jüngsten Untersuchungen zur Anwendung desselben Materials
in unterschiedlichen Tempi zu vertiefen. Drei klangliche Gestalten: Ein Ur-Ereignis, die Sinuswelle, und zwei Nachbarereignisse
– die Attacke mit oder ohne Nachhall und der gehaltene Klang mit oder ohne crescendo. Drei verschiedene Spektren: «harmonique»,
ausgedehntes «inharmonique» und komprimiertes «inharmonique». Drei verschiedene Tempi: ordinario, mehr oder weniger verbreitert
und mehr und mehr kontrahiert; dies sind die vorherrschenden Archetypen in Vortex temporum.
Abgesehen von der anfänglichen Drehformel, die direkt aus Daphnis und Cloe hervorgeht, legt Vortex temporum eine Harmonik
nahe, die ihren Kern in den vier Noten des verminderten Septakkordes hat, des Rotationsakkords par excellence. Tatsächlich
ermöglicht der Akkord vielfältige Modulationen, wenn man nacheinander jede seiner Noten als Leitton betrachtet. Es handelt
sich hier freilich nicht um tonale Musik, sondern vielmehr darum, zu erfassen, was in ihrem Funktionieren heute noch an Aktuellem
und Neuem steckt. Der Akkord befindet sich somit im Schnittpunkt der drei oben beschriebenen Spektren und bestimmt die verschiedenen
Transpositionen. Er bildet also den Knotenpunkt in der Artikulation der Tonhöhen von Vortex temporum. In den vier um einen
Viertelton tiefer gestimmten Frequenzen des Klaviers liegt er original vor, wobei dieser Angriff auf die sonst unantastbare
Klavierstimmung eine Klangfarbenverzerrung des Instruments einerseits und eine leichtere Eingliederung in die verschiedenen
Mikrointervalle andererseits ermöglicht.
In Vortex temporum kreisen die drei vorgenannten Archetypen von einem Satz zum anderen in Zeitkonstanten, die so verschieden sind wie die des
Menschen (Sprach- und Atemzeit), der Wale (Spektralzeit der Schlafrhythmen) und der Vögel wie Insekten (extrem kontrahierte
Zeit mit abgestumpften Konturen). Somit wird aufgrund dieses imaginären Mikroskops eine Note zur Klangfarbe, ein Akkord zum
Spektralkomplex und ein Rhythmus zum Konglomerat von unvorhersehbaren Dauern.
Die drei Teile des ersten, Gérard Zinsstag gewidmeten Satzes, entwickeln drei Aspekte der ursprünglichen, den Akustikern wohlbekannten
Welle: Sinuswelle (Drehform), eckige Welle (punktierte Rhythmen) und Sägezahnwelle (Klaviersolo). Sie verlaufen in einem Tempo
aus, das ich als «jubilierend» bezeichnen würde, das Tempo der Artikulation, des Rhythmus und des menschlichen Atmens. Nur
der Klaviersoloteil führt uns an die Grenzen der Virtuosität.
Der zweite, Salvatore Sciarrino gewidmete Satz nimmt identisches Material in gedehntem Tempo wieder auf. Die Anfangsgestalt
ist hier nur einmal, über die ganze Dauer des Satzes gezogen, zu hören. Ich habe versucht, in der Langsamkeit den Eindruck
von sphärischer, schwindelerregender Bewegung zu schaffen. Die aufsteigenden Bewegungen der Spektren, das Versinken der Grundtöne
in chromatischen Abwärtslinien und die fortwährenden Filtrationen im Klavier bewirken eine Art doppelter Rotation, eine helikoidale
und kontinuierliche Bewegung, die sich um sich selber dreht.
Der dritte Satz ist Helmut Lachenmann gewidmet. Er stellt den Schwingungstypen des ersten Satzes einen langen Entwicklungsprozess
gegenüber. Kontinuität und mit ihr die ausgedehnte Zeit, in die die Ereignisse des ersten Satzes in größerem Maßstab projiziert
werden, stellt sich erst allmählich ein. Die bereits im Verlauf des ersten Satzes unsanft behandelte Metrik ist oft im Strudel
reiner Dauer ertränkt. Die dem harmonischen Verlauf zugrunde liegenden Spektren – zuvor im zweiten Satz entwickelt – breiten
sich aus, um den Hörer die Textur erfassen und ihn in eine andere zeitliche Dimension vordringen zu lassen. Die komprimierte
Zeit zeigt sich auch im Aufblitzen von übersättigten Momenten, die die verschiedenen Sequenzen noch einmal in einem anderen
Maßstab zu Gehör bringen.
Zwischen den Sätzen von Vortex temporum stehen kurze Zwischenspiele. Einige Luft- und andere Geräusche und Klangschatten sollen die unfreiwillige Stille und Peinlichkeit
bei den Musikern und Zuhörern färben, wenn sie zwischen zwei Sätzen Atem holen. Diese Behandlung der Wartezeit, diese Brücke,
die von der Zeit des Zuhörens zur Zeit des Wartens geschlagen wird, erinnert durchaus an Dérives, Partiels oder an Jour –
Contre Jour. Natürlich sind die Geräusche nicht ohne Bezug auf die Morphologie von Vortex temporum. Das Material zugunsten der reinen Dauer aufzuheben, ist ein Traum, den ich seit vielen Jahren hege. Vortex temporum ist vielleicht nicht mehr als die Geschichte eines Arpeggios im Raum und in der Zeit, diesseits und jenseits unseres Hörfensters.
Ein Arpeggio, das mein Gedächtnis nach dem Willen der Monate, in denen dieses Stück niedergeschrieben wurde, emporgewirbelt
hat.
Gérard Grisey
Übersetzung aus dem Französischen: Barbara Maurer
BIOGRAPHIEN
Sydney Corbett
1960 geboren in Chicago, USA | Musik- und Philosophiestudium an der University of California, San Diego und der Yale University
| 1985 bis 1988 Studium an der Hamburger Musikhochschule bei György Ligeti | verfasst Bühnen-, Orchester-, Instrumental-,
Solo- und Vokalliteratur | zahlreiche Preise und Auszeichnungen im In- und Ausland | Schwerpunkt seiner jüngeren Arbeit im
Bereich des Musiktheaters | 2002 Uraufführung der Kammeroper X und Y in Basel | 2006 Portrait-CD erschienen beim Label Cybele
| seit Oktober 2006 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Mannheim
Detlev Müller-Siemens
1957 geboren in Hamburg | 1970-1972 Kompositions- und Klavierstudium bei Günter Friedrichs und Konrad Richter an der Hochschule
für Musik, Hamburg | 1973-1980 Kompositionsstudium bei György Ligeti, Klavier bei Andreas Meyer-Hermann, Eckart Besch und
Volker Banfield, Dirigieren bei Christoph von Dohnanyi an der Hochschule für Musik, Hamburg | 1974 Kranichsteiner Musikpreis
bei den Internationalen Ferienkursen Neuer Musik, Darmstadt | 1975 Förderpreis des Hamburger Bachpreises Stipendiat der Studienstiftung
des deutschen Volkes und der Heinrich-Strobel-Stiftung | 1977-1978 Studium bei Olivier Messiaen am Conservatoire supérieur
de Musique, Paris | 1980 und 1982 Stipendiat der Villa Massimo, Rom | 1991-2005 Professor für Komposition und Theorie an der
Musikhochschule Basel | 2005 Professor für Komposition an der Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien | zahlreiche
Preise und Förderungen u.a. Förderpreis des Berliner Kunstpreises (Akademie der Künste) Schneider-Schott Musikpreis, Hindemith-Förderpreis,
Rolf-Liebermann-Förderpreis für seine Oper die Menschen (UA 1990) etc.
Gérard Grisey
1946 geboren in Belfort/Frankreich | 1963-1965 Kompositionsstudium an der Musikhochschule Trossingen | 1965-1972 Studium am
Conservatoire u.a. bei Olivier Messiaen und Henri Dutilleux an der Ècole Normale de Musique de Paris | Auseinandersetzung
mit elektroakustischen Techniken bei Jean-Étienne Marie | 1972 Teilnahme an den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik
/ Darmstadt (u.a. Kurse bei Karlheinz Stockhausen, György Ligeti, Iannis Xenakis) | 1972-1974 Stipendiat der Villa Medici
| 1973 Gründung der Komponistengruppe I´tinéraire und dem Ensemble I´tinéraire | 1975 Kurse über Akustik bei Émile Leipp |
1980 DAAD Stipendium in Berlin | 1982 Lehrauftrag an der University of California und Berkley | 1986 Professor für Instrumentation
und Komposition am Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris | verstirbt 1998 in Paris
Roland Freisitzer
1973 geboren in Wien | seit 1989 Kompositionsstudien in Moskau bei Alfred Schnittke | seit 1991 Studium am Moskauer Konservatorium:
Komposition bei Edison Denisow | Meisterkurse bei Magnus Lindberg, Marco Stroppa, Franco Donatoni und Krzystof Penderecki
| 1992–94 Kompositions¬unterricht bei Avet Terterian | 1994 Gründung von The Moscow Orchestra | 1994–98 künstlerischer Leiter
und Chefdirigent des Orchesters | 1999 Abschluss des Studiums bei Faradsch Karaev in Baku, Rückkehr nach Österreich | Uraufführungen
in Göteborg, Stockholm, im Brahms-Saal der Gesellschaft der Musikfreunde, beim Brighton Festival, bei der London Cutting Edge
Series und der Gaudeamus Music Week durch Ensembles wie GAGEEGO!, trio obscura, Ensemble Kontrapunkte, Wiener Saxophonquartett
und das IXION Ensemble | Rundfunkproduktionen für Sveriges Radio und BBC | 2003 Gründung des ensemble reconsil zusammen mit
Alexander Wagendristel und Thomas Heinisch | 2004 Uraufführung des basset clarinet concerto im Wiener Musikverein durch das
Ensemble Kontra¬punkte unter Peter Keuschnig | 2005/06 Uraufführungen bei den Dresdner Tagen für neue Musik und im Studio
Neue Musik Moskau
Rita Balta
geboren in Litauen | Gesangsstudium in Warschau und Wien | Stipendiatin der deutschen Schubert-Gesellschaft, der Konrad Adenauer
Stiftung und des Braunschweiger Musikpodiums | 2002 Preis¬trägerin der Sommerakademie Mozarteum im Rahmen des Salzburg Festspiele
| Als Solistin Aufführungen bei internationalen Muikfestivals | Zusammenarbeit mit den Dirigenten Marcello Viotti, Helmut
Rilling, Peter Neumann und Johannes Kalitzke | 2004 Titelpartie in Vykintas Baltakas’ Kammeroper Cantio bei der Musikbiennale
München | Zahlreiche Radioaufnahmen und CD-Produktionen, u.a. mit dem Ensemble Modern, dem Klangforum Vienna und dem Nieuw
Ensemble Amsterdam
Kaori Nishii
geboren in Tokyo | erster Klavierunterricht mit 3 Jahren | Nach dem Abschluß des Musikgymnasiums Übersiedelung nach Wien |
Klavierstudium an der Wiener Musikuniversität bei Heinz Medjimorec | Kammermusik-Studium bei Johannes Kropfitsch am Konservatorium
der Stadt Wien | Studium der Vokalbegleitung bei David Lutz an der Wiener Musikuniversität | Meisterkurse bei Oleg Maisenberg,
Lazar Berman, Pavel Gililow | 2000 und 2002 Erika Chary Förderpreis, 2001 Bösendorferstipendium | Preisträgerin der Alban
Berg–Stiftung, beim Dr. Joseph Dichler Klavierwettbewerb und beim 7. Internationalen Johannes Brahms Wettbewerb | Seit 2004
Lehrbeauftragte an der Musikuiversität Wien | Konzertauftritte bei der 100 Jahre Feier von Yamaha („centenial concert“), beim
Internationalen Musikfestival „Moscow autumn“, Kammermusikabende mit dem „Ensemble Wiener Consort“ sowie zahlreiche Konzerte
im In- und Ausland als Solopianistin und Kammermusikerin, darunter zahlreiche Uraufführungen | Seit 2003 Mitglied des Ensemble
Reconsil Wien.
Ensemble Reconsil
2002 von Roland Freisitzer, Thomas Heinisch und Alexander Wagendristel gegründet | 2002-2006 Konzerte in Wien (Stadtinitiative,
Alte Schmiede), Graz, München, Barcelona | 100 Uraufführungen von eigens für das Ensemble komponierten Werken, u.a. von Michael
Finissy, Cristina Landuzzi, Olga Rajeva, Georg Friedrich Haas, Gerd Kühr, Gerald Resch | Seit 2006 Zusammenarbeit mit dem
Arnold Schönberg Center; seither intensive Beschäftigung mit dem Werk Arnold Schönbergs und in Folge Einbeziehung ausgewählter
Klassiker der Moderne (Edgard Varèse, Alban Berg, Hanns Eisler) in die Programmplanung | 2007-2008 Abonnement-Zyklus im Arnold
Schönberg Center, Konzerte im Wiener Konzerthaus u.a.