WIEN MODERN 2008

RACINES ÉPHÉMÈRES

WIEN MODERN 2008

RACINES ÉPHÉMÈRES
Sa, 15.11.2008, 19:30 Uhr

Das Schömer-Haus

In vielen seiner Werke seit 1996 erforscht Sandeep Bhagwati seine Spielart der Ensemble-Comprovisation, in der komponierte und improvisierte Linien in komplexen Architekturen überlagert und ineinander verwoben sind.
In vielen seiner Werke seit 1996 erforscht Sandeep Bhagwati seine Spielart der Ensemble-Comprovisation, in der komponierte und improvisierte Linien in komplexen Architekturen überlagert und ineinander verwoben sind.
Manchmal sind die Musiker frei wie im Free Jazz, dann wieder haben sie genaueste Anweisungen, wie sie aufeinander hören und reagieren sollen. Die Musik, die dabei entsteht, ist exzessiv und wild, sehr meditativ, oft harmonisch und genau so oft von ungemütlicher Schärfe - ein akustischer Spiegel unserer Welt. Alle Stücke entstehen in engster Zusammenarbeit, oft monatelangen Workshop-Prozessen, mit den Ensembles, bislang u.a. dem Ensemble Modern, den Neuen Vocalsolisten, den New Century Players, dem Ensemble die reihe, dem Nieuw Ensemble u.v.a.

Mit dem Montréaler Nouvel Ensemble Moderne hat Bhagwati einen großen Variationenzyklus erarbeitet, der die Flüchtigkeit unserer Heimaten im 21. Jahrhundert aufgreift und in eine musikalische Aktion im Raum verwandelt. Als musikalisches und strukturelles Thema wählte er eine Melodie von Claude Vivier (1948-1983) aus dessen Kammermusikwerk Et je reverrai cette ville étrange. Eine Meditation über Vergessen und Finden, über Sehnsucht und Vertrauen, mit Unruhe und deren Schönheit, in der auch die Dirigentin nicht immer weiß, welche Musik entstehen wird, wenn sie ihre Hand zum Einsatz erhebt.

Univ.-Prof. Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant der Sammlung Essl



PROGRAMM

Sandeep Bhagwati (* 1963): racines éphémères (2007-2008)
für 8 Musiker, Live-Elektronik und obligater Dirigentin
Kompositionsauftrag der Sammlung Essl - Uraufführung



AUSFÜHRENDE

Nouvelle Ensemble Moderne (Montréal)

Guy Pelletier: Flöte
Normand Forget: Oboe
Martin Carpentier: Klarinette
Mathieu Lussier: Fagott
Jocelyn Veilleux: Horn
Angelo Munoz: Posaune
Brian Bacon: Viola
Yannick Chênevert: Kontrabass

Lorraine Vaillancourt: Dirigentin, Schlagzeug

Robert Kellner: Computer
Sandeep Bhagwati: Klangregie



WERKEINFÜHRUNG

Sandeep Bhagwati: racines éphémères (2007-2008)

Die flüchtigen Wurzeln des Titels sind unsere Wurzeln als Bürger einer immer beweglicheren Welt, in der Nachbarschaft weniger wichtig scheint als e-mail, in der wir mit Menschen auf anderen Kontinenten um unseren Arbeitsplatz konkurrieren, oft sogar in Echtzeit, in der Familientreffen zu internationalen Events werden. Noch immer schlagen wir Wurzeln in unserer Umgebung, noch immer gibt es das Gefühl des Zuhauseseins, aber anders als früher ist es nicht mehr ein quasi natürlicher, alternativloser Zustand – wir wissen, dass wir uns unser Zuhause selber machen müssen, dass wir unsere Wurzeln jederzeit ausreissen und neu einsenken können müssen.

Als Komponist frage ich mich, welche Folgen diese Realität für die Musik haben muss – und dieses Werk ist ein Versuch, solche Folgen musikalisch zu verstehen. Racines éphémères ist eine mobile Installation aus 8 Musikern und einem obligaten Dirigenten, in der sich Improvisation und Komposition auf unsicherem Terrain vorsichtig umkreisen. In 8 großen Variationsgruppen, die wiederum jede aus einem Thema mit 7 Variationen besteht, wird ein einziges musikalisches Konzentrat (eine musikalische Idee) immer wieder neu kompositorisch interpretiert und in andere Musikformen eingepflanzt – und dann auf verschiedenste Weisen variiert. Jeder Musiker hat dabei einen eigenen Pfad, in dem sich komponierte und nach Regeln improvisierend gestaltete Passagen ergänzen und abwechseln.

Es gibt keine übergreifende Partitur, die Dirigentin weiß nicht, ob ein Musiker als nächstes nach gewissen Regeln improvisieren wird oder seine komponierten Noten spielen wird – sie dirigiert nur ein System aus Zeichen, das für jeden Musiker etwas anderes bedeuten kann – und sie gibt das Tempo, die Klangbalance und die Stimmung vor, in der diese vielfältige Überlagerung aus Interpretation und Komposition ihre Gestalt findet. Dabei sind die Musiker auch keineswegs statisch, sie wandern durch die Halle, finden sich quasi zufällig zu in jeder Aufführung neuen Duos, Trios und Quartetten zusammen, die ein Stück dieses Werkes gemeinsam gestalten, bevor ihr Zusammenspiel sich wieder auflöst. Trotz aller Freiheiten steht das Werk jedoch auch in der Tradition der ausgedehnten Variationszyklen der Vergangenheit von Goldberg bis Diabelli: Kompositionen, in denen die flüchtigen Wurzeln einer Melodie und ihre Wandelbarkeit in vielen Kontexten aufgezeigt worden sind.


COMPROVISATION

Improvisation hat einen schlechten Ruf, weil die Notenarbeit des westlichen Musikers von Ideologen der Improvisation als „beschränkt“ gebrandmarkt und die Improvisation als Feier der Freiheit ausgerufen wurde. Woraufhin es nur wenig brauchte, um die meisten Improvisatoren mit Recht als Konventionstäter zu entlarven, die die immer gleichen Floskeln gebrauchten und, bei freien Gruppenimprovisationen immer wieder die gleiche Form: leiser vereinzelter Beginn, dann anschwellende Turbulenz, chaotische Höhepunkte, bis keiner mehr weiß, was man in diesem Tumult noch sinnvoll beisteuern soll, langsames Abschwellen, Ausfasern, Ende.

Mit einem gewissen Recht sagten da die schreibenden Komponisten, dass ihre eigenen Werke viel innovativer sein, und in gewisser Weise auch freier, weil sie nicht den Formgesetzen der Gruppendynamik gehorchen mussten. Dem ganzen Disput liegt aber ein Missverständnis zugrunde: jenes nämlich, dass Improvisation irgendetwas mit Regellosigkeit zu tun habe. Im Gegenteil, könnte man mit Blick auf die vielen improvisierenden Musiker Indiens, Chinas, Javas und der arabischen Welt bemerken: Improvisation ist nicht Regelfreiheit, sondern strengste Disziplin des Geistes. In einer Improvisation muß ein Musiker nicht nur zu jedem Zeitpunkt wissen, wo in einem komplexen Formschema man sich gerade befindet, man muß sich auch immer wieder der Umgebung, der anderen Musiker, des Publikums gewahr werden – während man spielt. Eine Wachheit, die gesteigert wird, durch den entscheidenden Unterschied zwischen improvisierten und komponierten Formen: der Umgang mit der Erinnerung. Eine Improvisatorin sammelt vom ersten Moment an Erinnerungen an die Musik an, die sie spielt, gespielt hat, spielen wollte. In guten Improvisationen hört man, wie sich langsam eine Erzählung aufbaut, ein Spiel mit Vergangenem und Vorahnungen des Kommenden. All das beschreibt den Vorgang der Solo-Improvisation sehr genau – aber wie kann man auf diese Weise in Gruppen improvisieren, ohne auf die oben erwähnten ästhetisch banalen Selbstorganisationsformen zurückzufallen?

An diesem Punkt, so glaube ich, besteht der fruchtbarste Kontaktpunkt zwischen der Partiturtradition des Westens und den mentalen Disziplinen anderer Kulturen: In einem gewissen Sinne scheint mir die tausendjährige Partiturtradition des Westens eine andere Art von Übung zu sein, eine Vorbereitung auf das Improvisieren in Gruppen. Unsere Gesellschaften werden immer flüchtiger, alle sozialen Trends zielen auf eine De-Stabilisierung des Alltags, die jeden Menschen auf der Welt erfasst. Wir treten aus der noch immer dominanten bäuerlichen, Land und Boden betonenden Kultur über in eine viel instabilere, offenere Welt, in der die Regeln ständig wechseln, und in der das Schriftstück, der lebenslange Arbeitsvertrag, die unauflösliche Bindung an einen einzigen Staat für immer mehr Menschen vergilbte Märchenbilder aus einer trauten Vergangenheit sind.

Wir haben lange in vielen Partituren gelebt, Partituren, die immer strenger und genauer wurden, um immer mehr Improvisation auszuschließen, um die Schrecken der Unsicherheit fernzuhalten. Nicht zufällig erreichen die Partituren den Höhepunkt des Kontrollwahns schon bald nach dem verlorenen Krieg in den 1950er Jahren, in Frankreich, Deutschland, Polen. Man hatte erfahren, dass Unsicherheit, das Versagen der eigenen Lebenspartitur das Schlimmste war für Menschen. Die erste Antwort darauf war: bessere, strengere, fehlerlosere Partituren. Doch das hat nicht funktioniert – jene Elephanten, die die Welt und uns auf ihrem Rücken tragen, können leider Partituren nicht lesen.

Mir scheint, dass es in einer Welt, in der die Konflikte sich eher häufen werden als abzunehmen, in der zunehmend unsicher werden wird, wer Recht und Unrecht hat, in der alle bald alles über alle erfahren können, keine Welt sein wird, die noch mit Partituren allein bewältigbar sein wird. Aber auch eine gezwungenermaßen unablässig notdürftigende Improvisation wäre in einer solchen Situation ebenso unangebracht wie gefährlich. Wir brauchen, in der Musik wie im Leben eine Synthese dieser beiden Lebensformen, etwas das man „Comprovisation“ nennen könnte. Seit 1996 habe ich meine künstlerische Arbeit der Suche nach ihren Möglichkeiten verschrieben. Eines ist mir inzwischen klar geworden: Als Technik ist Comprovisation komplizierter als alle anderen Kompositionstechniken, die ich kenne - weil sie immer die „unordentliche“ wirkliche Welt und die Gedankenlosigkeit wirklicher Menschen mitdenken muss. Aber in ihren besten Momenten ist genau das auch ihr Glanz - dass sie uns vom Nachbeten befreit, ohne uns aus der sinnlichen Gemeinschaft des Menschlichen zu stossen.

Sandeep Bhagwati
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