HEAVEN...

Spirituelle Musik im Raum

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Spirituelle Musik im Raum
Sa, 10.03.2001, 19:30 Uhr

Das Schömer-Haus

Soli Deo Gloria! Gott allein die Ehre! Mit diesem Lobpreis, zusammengefasst in dem Kürzel SDG, haben Komponisten wie Joseph Haydn und Johann Sebastian Bach oftmals ihre Werke unterzeichnet und damit an eine uralte Tradition angeschlossen, die von der Auffassung getragen ist, dass Musik nicht bloß Klang, sondern auch Widerspiegelung göttlicher Offenbarung ist.
Soli Deo Gloria! Gott allein die Ehre! Mit diesem Lobpreis, zusammengefasst in dem Kürzel SDG, haben Komponisten wie Joseph Haydn und Johann Sebastian Bach oftmals ihre Werke unterzeichnet und damit an eine uralte Tradition angeschlossen, die von der Auffassung getragen ist, dass Musik nicht bloß Klang, sondern auch Widerspiegelung göttlicher Offenbarung ist. Musik wird als metaphysisches Prinzip aufgefasst, das aus der Beschränktheit unserer physischen Welt auf eine andere, eben eine transzendente, verweist: einen Raum, der seit jeher als "Himmel" bezeichnet wird.

Drei höchst unterschiedliche Komponisten nähern sich diesem Begriffsfeld in höchst unterschiedlicher Weise. Harrison Birtwistle dringt in seiner Bearbeitung zweier Motetten von Machaut und Ockeghem mit den Mitteln der Moderne in die kosmischen Welten der alten Mehrstimmigkeit vor (keineswegs zurück!). Isang Yun verabschiedet in Distanzen das abendländische Musikdenken der kausalen Zusammenhänge zugunsten des intuitiven Auslotens von Entfernungen und Spannungen zwischen autonomen musikalischen Ereignissen. Klaus Huber verschmilzt aktuellen Zustandsbericht und prophetische Endzeitvision in einer der berührendsten Kompositionen der Gegenwart miteinander. Drei Blickwinkel, drei Gedankengänge, drei Hörrichtungen – sie stehen stellvertretend für die unzähligen stilistischen und ästhetischen Bestrebungen, Musik, der affektivsten aller künstlerischen Ausdrucksformen, ihren althergebrachten spirituellen Platz zu bewahren.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES



Programm


Guilleaume de Machaut / Harrison Birtwistle (ca. 1300-1377 / * 1934)
Hoquetus David (1969)

für Pikkoloflöte, C-Klarinette, Violine, Cello, Glockenspiel und Glocken


Isang Yun (1917-1995)
Distanzen (1988)

für Bläser- und Streichquintett


Johannes Ockeghem / Harrison Birtwistle (ca. 1425-1495 / * 1934)
Ut heremita solus (1969)

für Flöte, Klarinette, Viola, Cello, Cembalo und Glockenspiel


Klaus Huber (* 1924)
Senfkorn (1975)



szene instrumental (Graz)

Arno Steinwider - Flöte
Pius Pfiffner - Oboe
Manuela Höfler - Klarinette
Klaus Hubmann - Fagott
Karl Schwaiger - Horn
Ulli Stadler-Fromme - Schlagzeug
Konstanze Hubmann - Cembalo
Theo Patsalidis - Violine
Barbara Konrad - Violine
Wolfgang Stangl - Viola
Ruth Straub - Violoncello
Anton Haunold - Kontrabass
Hannes Edermayer - Knabensopran

Leitung : Wolfgang Hattinger



Christian Baier
HIMMEL - ORT DER MUSIK

Drei höchst unterschiedliche Komponisten nähern sich der Spiritualität, für die der "Himmel" seit Jahrhunderten als magisches Symbolum steht. Harrison Birtwistle dringt in seiner Bearbeitung zweier Motetten von Machaut und Ockeghem mit den Mitteln der Moderne in die kosmischen Wel-ten der alten Mehrstimmigkeit vor (keineswegs zurück!). Isang Yun verabschiedet in "Distanzen" das abendländische Musikdenken der kausalen Zusammenhänge zugunsten des intuitiven Auslotens von Entfernungen und Spannungen zwischen singulär-autonomen musikalischen Ereignissen. Klaus Huber verschmilzt aktuellen Zustandsbericht und prophetische Endzeitvision in einer der berüh-rendsten Kompositionen der Gegenwart miteinander. Drei Blickwinkel, drei Gedankengänge, drei Hörrichtungen - sie stehen stellvertretend für die unzähligen stilistischen und ästhetischen Bestrebungen, Musik, der affektivsten aller künstlerischen Ausdrucksformen, ihren althergebrachten spirituellen Platz zu bewahren - fernab von religiöser Ideologie und dumpfem Fundamentalismus...


In der künstlerischen Biographie von Harrison Birtwistle hat seine Begegnung mit Strawinskys Ballett "Agon" im Jahr 1957 die Funktion eines "turning point". Gleich nach seinem Abgang vom Royal Manchester College of Music, wo er Klarinette und Komposition studierte, analysierte er die "Agon"-Partitur und kam zur Überzeugung, dass man Strawinskys Tänze nicht als auf Modellen des 17. Jahrhunderts basierend verstehen sollte, sondern sie als die Quelle dessen ansehen, was Musiker (wie etwa bei "Agon" Lully) in einer sehr verfeinerten Art zu einem späteren Zeitpunkt komponiert hätten. Michael Hall, Kenner des OEuvre von Harrison Birtwistle, führt dazu aus: "Birtwistle glaubt, dass Komposition als ein zyklischer Prozess begriffen werden könnte. Es gibt keinen Grund, warum ein Komponist nicht zum Anfang des Zyklus zurückkehren sollte."

Birtwistle selbst nennt jene seiner Kompositionen, die auf frühere Segmente des musik-geschichtlichen Entwicklungszyklus zurückgreifen, "Quellen"-Musik. Eines der ersten und bis heute populärsten "Quellen"-Werke ist "Tragoedia" aus dem Jahr 1965, das auf Elementen der griechischen Tragödie fußt und die Form der antiken Tragödie musikalisch neu deutet. Immer wieder, so stellt Michael Hall fest, sind es "formale Aspekte, die Birtwistle zur Vergangenheit ziehen. Er ist der Überzeugung, dass nur die Form überdauert."

Wie viele Komponisten seiner Generation hat Birtwistle (Jahrgang 1934) sich nicht für die gerade in England besonders gepflegte romantische Tradition und die "Zielorientiertheit" der tonalen Musik erwärmen können. Wohl aber, so Michael Hall, "war Birtwistle durchaus zufrieden, seine Technik auf die formalen Aspekte mittelalterlicher Musik abzustellen, das heißt auf Iso-rhythmie, Organum und Hoquetus. [...] Birtwistle will freilich keine mittelalterliche Musik reproduzieren. Es geht ihm nur um die formalen Prinzipien, und er wendet diese auf seine eigene, idiosynkratische Art an."

Darin ist eine (von vielen) Parallelen Birtwistles zu Strawinsky zu sehen, der - auch lange nach seiner neoklassizistischen Phase - immer wieder auf vergangene Stilepochen der Musik-geschichten und einzelne Werke (etwa im "Monumentum pro Gesualdo") zurückgriff, um quasi sein eigenes ästhetisches Denken an ihnen zu überprüfen.

1969 (ein Jahr vor der bahnbrechenden Komposition "Nenia: The Death of Orpheus") wandte sich Birtwistle dem Schaffen von Guilleaume de Machaut (ca. 1300-1377) zu. Machaut, Hauptvertreter der "Ars nova"-Bewegung in Frankreich, die die frühe Mehrstimmigkeit propagierte, ist vor allem mit seiner "Missa de Nostre Dame" [die am 10.4.1999 im SCHÖMER-HAUS durch das Vokalensemble NOVA aufgeführt wurde] musikhistorisch von größter Bedeutung. Strawinsky selbst griff für seine "Messe" (1948) auf das musikalische Gedankengut Machauts zurück. "Hoquetus David" ist eine Bearbeitung der gleichnamigen Machaut-Motette für Pikkoloflöte, C-Klarinette, Violine, Cello, Glockenspiel und Glocken. Das Original gehört zum Typus der isorhythmischen Motette, bei der ein einfaches melodisches Fragment zu einer langen Stimmlinie erweitert wird, die eher zyklisch als durchkomponiert ist. Wie bei vielen Motetten Machauts, so reicht das harmonische Spektrum in "Hoquetus David" vom Wohlklang bis zur dissonanten Herbheit, die Birtwistle noch verstärkt, indem er bestimmte melodische Linien durch parallele Quinten verdoppelt. Einen besonders sinnlichen und rhythmisch effektvollen Reiz stellt das Hoquetieren des Glockenspiels dar, bei dem die Melodiestimme in ihre einzelnen Töne zerlegt wird und zu einem schmalen ornamentalen Band aufgedröselt erscheint.

Die Solmisationsmotette "Ut heremita solus" stammt von Johannes (Jan) Ockeghem (ca. 1425-1495). Ockeghem ist der Hauptvertreter der mittleren Generation der niederländischen kontrapunktischen Schule und schuf mit seinen Werken einen reichen Formkanon, der von der kunstvollen Durchimitation der Stimmen bis zum bis heute satztechnisch unübertroffenen Rätselkanon reicht. In seinen Chansons hat sich manch niederländisches Volkslied bewahrt, in seinen Messen und bis zu 36-stimmigen Motetten erlebte die niederländische Polyphonie ihre Hochblüte.

Birtwistle wurde vor allem von der Verszeile des Cantus firmus angezogen, in der es heißt: "Wie ein Einsiedler warte ich einsam, bis meine Verwandlung kommt." Der Cantus firmus erklingt zweimal, wird aber zunehmend zersplittert und von den freien Ober- und Unterstimmen abgetrennt, die das Ensemble zu dessen Solo bilden. Durch Verkleinerungen der rhythmischen Werte wird bei der Reprise des Cantus firmus dessen Charakter gänzlich verändert, die melodische Linie also aus sich heraus neu gestaltet. Die Wahl des Instrumentariums (Flöte, sowohl Piccolo als auch Alt, Klarinette und Bassklarinette, Viola, Cello, Klavier und Glockenspiel) zeigt Birtwistles Bestrebung, durch eine akzentuierte Nuancierung im Klangspektrum der einzelnen Stimmen die Vielschich-tigkeit des polyphonen Satzes optimal herauszuarbeiten.

Die Verschränkung von Gedanke und Musik ist ein Kennzeichen der Musik von Isang Yun. Für den 1917 in der südkoreanischen Hafenstadt Chung Mu geborenen Komponisten war Musik nie-mals von einem gedanklichen und spirituell geistigen Background zu trennen. Im Gegenteil: Die Vollendung - ein feststehender Parameter im Schaffen Yuns - liegt in der homogen-organischen Verbindung von musikalischem Ausdruck, formaler Struktur und der das Werk durchdringenden Idee. Eine solche Ästhetik greift weit in die Kulturgeschichte zurück und wurzelt im Ritual, der eigentlichen Geburtsstätte der Musik.

Yuns kompositorisches OEuvre ist - parallel zu seiner bewegten Biographie - geprägt von stilistischen Brüchen und äußerlich oftmals radikal anmutenden ästhetischen Umschwüngen. Doch diese sind nicht als bloße künstlerische Richtungswechsel zu verstehen, sondern muten wie Vor-sichtsmaßnahmen an, das Denken vor den Anfechtungen der Trägheit und der Tradition zu schützen. Paradigmatisch steht gerade über den Kompositionen aus dem letzten Lebensjahrzehnt Yuns, zu denen auch Distanzen für Bläser- und Streichquintett zählt, ein Satz aus dem "Tao te king": "Groß, das heißt immer bewegt. Immer bewegt, das heißt ferne. Ferne, das heißt zurückkehrend. So ist der Sinn groß, der Himmel groß, die Erde groß."

Von Yun - mit öffentlichen Aussagen zu seiner Musik eher zurückhaltend - ist der Ausspruch "Meine Musik muss strömen" überliefert. Die ständige Bewegung, in der sich Harmonien, Metren und melodische Linien bei ihm befinden, beginnt schon beim einzelnen Ton. Dieser ist für ihn nicht mehr Ausgangsmaterial einer Bewegung, sondern Bewegung an sich, er ist der Initiationspunkt eines dramatischen Prozesses und birgt in sich bereits das gesamte Werk.

In den zahlreichen monologischen Werken für Soloinstrumente Anfang der 70er Jahre - wie etwa "Gasa", "Garak", "Nore" oder "Riul" - tritt die essentielle Bedeutung des einzelnen Tones klar zutage. Alles geht von ihm aus, alles führt zu ihm zurück. In den 1988 entstandenen "Distanzen" wird diese Sichtweise hinter der für Yuns Alterswerk charakteristischen Tendenz zu Wohllaut und lyrischer Kantabilität deutlich, markieren doch die einzelnen Töne die jeweiligen Enden der zu durchmessenden, zu überwindenden Entfernungen. Die Distanzen in dieser Komposition können als die hörbar gewordenen Spannungszustände zwischen den singulären Tönen - und weiter zwischen den beiden Instrumentengruppen und den einzelnen Instrumenten - verstanden werden. Alle Linien des Werkes, welches das Instrumentalensemble als einen in sich geschlossenen Kosmos behandelt, erwachsen aus dem Punktuellen und Singulären. Ihr lyrisches und stark sinnlich-affektiv dominiertes Äußeres kann bei genauerem Hinhören nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eines der klarsten und minimalistischen Werke Yuns handelt, in dem alles, auf sich selbst reduziert, aus sich entsteht und erwächst und in sich selbst wieder zurückführt. Der Komponist hat elf Jahre zuvor bereits auf die wesentlichen Unterschiede zwischen europäischer und asiatischer Musik hingewiesen, indem er meinte: "Durch die architektonischen Elemente gibt es in der europäischen Musik Anfang, Entwicklung und Ende. Die asiatische Musik strömt, sie kommt aus sich selbst und bleibt sich immer gleich. Deshalb habe ich meine Musik als Bewegtheit in der Unbewegtheit definiert. Wenn Sie asiatische Musik hören, so erklingt zwei, drei Stunden lang immer dasselbe. Erst wenn man genau beobachtet, stellt man fest, dass es nie genau dasselbe ist. Immer wird etwas differenziert, verändert."

In diesem Sinne ist "Distanzen" ein zutiefst doppelbödiges und hintersinniges Werk, konfrontiert es doch sein Publikum mit den Fallen des abendländischen Denkens. Wird - gerade in Europa - die Distanz stets als existenzieller Graben oder zwischenmenschlicher Abgrund verstanden, der zugeschüttet, überbrückt oder überwunden werden muss, lässt die Komposition die Spannungszustände zwischen den weit entfernten Polen offen und gewinnt daraus ein schöpferisch-geistiges Potential, das Begriffe wie Anfang und Ende, Start und Ziel nicht mehr kennt, sondern nur noch den Weg zwischen zwei Punkten. Ihn zu beschreiten ohne Absicht, jemals irgendwo anzukommen (und somit eine Distanz überwunden zu haben), formuliert mit neuzeitlichem Vokabular das alte asiatische Diktum vom Weg, der das Ziel ist.

Klaus Huber ist einer der großen Außenseiter der zeitgenössischen Musik, ein stiller Radikalist, der mit geradezu ethnologischer Neugier und archäologischer Umsicht in zahlreiche Grabkammern der Musikgeschichte vorgedrungen ist, um dort nicht Totes, sondern höchst lebendiges, nicht Vergangenes, sondern zutiefst Gegenwärtiges zu entdecken. Der 1924 in Bern geborene Sohn eines Kirchenmusikers studierte u.a. bei Willy Burkhard und Boris Blacher, unterrichtete in Basel und Bilthoven, ehe er zwischen 1973 und 1990 als Leiter der Kompositionsklasse und des Instituts für Neue Musik an der Musikhochschule Freiburg/Breisgau zu einer der international gefragtesten Pädagogenpersönlichkeiten der zeitgenössischen Musik wurde. Zu seinen Schülern zählten u.a. Younghi Pagh-Paan, Wolfgang Rihm, Michael Jarrell, Brian Ferneyhough und Toshio Hosokawa.

Ausgehend von der Sakralmusik, deren Repertoire er mit Werken wie "Des Engels Anredung an seine Seele" (1959), dem Oratorium "Sololoquia Sancti Aurelii Augustini" (1959/64) und "Kleine Deutsche Messe" (1969) erweiterte, hat Huber stets danach getrachtet, sich als Komponist den kulturpolitischen Belangen seiner Zeit nicht zu entziehen. Hanns-Werner Heister hat berechtigt von einem "Teilmoment seines progressiven Engagements" gesprochen und damit auf Hubers Einsatz für eine kooperative, genossenschaftliche Organisation der Musikschaffenden gegen die herrschende Tendenz des Konkurrenzverhaltens und gegen die Kommerzialisierung der Musikkultur angespielt.

Für Huber ist das musikalische Werk niemals autonom. Es ist nicht unabhängig und unbeeinflusst von der Zeit, in der es entstanden ist, sondern reagiert in vielfältiger Weise auf sie. Anders als etwa bei Luigi Nono ist Musik für Huber allerdings nicht Mittel zur politischen Provokation und Agitation, sondern ein engagiertes Handeln an sich, also nicht Waffe im Kampf, Mittel zum Zweck, sondern Parole, Aktion an sich. Nicht umsonst sieht Huber eines seiner wichtigsten Werke, das Oratorium "Um der Unterdrückten willen" (1975/82), als die Summe seines Bestrebens, "Bergpredigt" und "Kommunistisches Manifest" miteinander zu verbinden. Die Wahl der Texte, die Collagierung von "O-Ton"-Materialien sowie die Interpolierung von signifikanten, assoziationsweckenden Geräuschen (etwa der Folter, des blindwütigen Marschierens etc.), all dies sind für Huber bereits Bestandteile des umfassenden humanistisch-engagierten Handelns, das er dem zeitgenössischen Künstler abfordert. Der musikwissenschaftliche Theoretiker Raphael Brunner hat Hubers Musik einmal als "Amalgam aus Humanismus und Modernität" charakterisiert, Brian Ferneyhough geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er meint, Hubers Humanismus bediene sich der Musik als eines visionären Mittels zur Realisierung hoher ethischer Ideale. "Senfkorn" für Oboe, Violine, Viola, Cello, Cembalo und Knabenstimme entstand 1975 für die Stadt Brescia, wo am 4. Juni auch die Uraufführung stattfand. Im Untertitel trägt es den Vermerk "in memoriam L.D." (= Luigi Dallapiccola). Der Titel bezieht sich auf eine mehrfach in beiden Teilen der Bibel erwähnte Pflanze (granum senapis), "ein kleines Korn, aus dem Großes entsteht". Die Unscheinbarkeit des Senfkorns ist etwa dem Evangelisten Matthäus Symbol für das Wachsen und Reifen des wahren Glaubens im Verborgenen.

Bewusst wählt Huber Texte von Ernesto Cardenal, dessen "Theologie der Befreiung" sich der Komponist verpflichtet fühlt, und aus dem visionären 11. Kapitel des Buches Jesaia. Die politisch engagierte Psalmdeutung durch Ernesto Cardenal und die Endzeitprophetie Jesaias vom paradiesischen Zustand, in dem "der Wolf beim Lamm wohnt, und der Panther liegt beim Böckchen", sind die beiden textlichen Hemisphären der Komposition, vorgetragen vom Knabensopran, den Huber als Verkörperung einer neuen und besseren Welt verstanden wissen will. Zwischen den Hemisphären fungiert quasi als nonverbaler Transmitter ein Zitat des Beginns der Bassarie "Es ist vollbracht" aus den Kantate 159 von Johann Sebastian Bach. "Aus dem kurzen Zitat", erläutert Huber, "das auf der Dominante auslöscht, treten abschließend die in Vergrößerung einzeln freigesetzten Grundmotive des Anfangs hervor: Konkretisierung des "Neuen’ in "Momenten höchsten Glanzes’. - Kompositorisch habe ich mir die Aufgabe einer allmählichen (prozeßhaften) Annäherung der zu Beginn exponierten intervallischen und rhythmischen Motive an die Thematik des Bachzitates gestellt: In zart verwobene Motivgruppen dringen mehr und mehr die charakteristischen Bildungen der Bacharie ein. Ihr immer dichteres und zusammenhängenderes Inerscheinungtreten führt schließlich den Umbruch zwangsläufig herbei."


Senfkorn

a. Verlier nicht die Geduld, wenn du siehst, wie sie Millionen machen.
b. Ihre Aktien sind wie das Heu auf den Wiesen.
c. Laß dich nicht beunruhigen von ihren Erfindungen - noch von ihrem technischen Fortschritt.
d. Den Führer, den du heute siehst, wirst du bald nicht mehr sehen, du wirst ihn suchen in einem Palast - und nicht finden.
e. Die neuen Führer werden Pazifisten sein und Frieden machen.

1. Habitat lupus cum agno [Es wohnt der Wolf beim Lamm,]
2. et pardus cum haedo accubat. [Und der Panther liegt beim Böckchen.]
3. Vitulus et leo simul morantur. [Das Kalb und der Löwe weilen beieinander.]
f. Die Großmächte sind wie die Blumen auf den Wiesen und die Weltmächte wie Rauch.
4. Et puer parvulus minat eos. [Und ein Knabe weidet sie.]
5. Und Kuh und Bär befreunden sich und werfen beieinander ihre Jungen.
6. Und Stroh frisst gleich dem Rind der Löwe.

a-f: Aus Psalm 36 (37). Ernesto Cardenal: Psalmen.
1-6: Jesaia, 11, Vers 6-7
Kursiv gesetzte Passagen werden gesungen.


Ausführende

szene instrumental (Graz)

Das Ensemble wurde 1994 von Wolfgang Hattinger für die Gestaltung von Portraits zeitgenössischer Komponisten für den ORF gegründet und war von Beginn an als Projektensemble konzipiert. Es umfaßt derzeit 24 Musiker und Musikerinnen.

Konzerte u.a. beim "Musikprotokoll" des "steirischen herbst", in der Reihe "Klangspuren" des ORF, für die Konzertreihen "open music" und "die andere Saite", beim Festival "Hörgänge" im Wiener Konzerthaus, "Musik der Religionen" Innsbruck, Zagreb, "Musik und Kirche" Brixen/Italien, Int. Ferienkurse Darmstadt, "Tage zeitgemäßer Musik Bludenz", "Neue Musik Lüneburg", "Experimental Intermedia", New York. Zahlreiche Einspielungen zeitgenössischer KomponistInnen für ORF und RAI. Einige dieser Aufnahmen dienten als Basis für Computerklangbearbeitungen und wurden in Montreal/Canada und Tokyo/Japan vorgestellt.

Zusammenarbeit mit Klaus Huber, Isang Yun, Younghi Pagh-Paan, Hermann Markus Pressl, Isabel Mundry, Peter Michael Hamel, Christine Whittlesey, Dimitrios Polisoidis, Janna Polyzoides, Carsten Svanberg, Martin Klietmann, Maureen Browne, Margarethe Jungen, Burkhard Stangl u.a. Ein wesentlicher Tätigkeitsbereich ist die Förderung junger österreichischer Komponisten durch regelmäßige Vergabe von Kompositionsaufträgen. Bisher wurden etwa 40 Uraufführungen junger Komponisten und Komponistinnen für den ORF eingespielt.

Wolfgang Hattinger, geb. 1962, Studium von Klarinette, Komposition, Dirigieren an der Kunstuniversität Graz sowie Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der UNI Graz. 1990-95 Lehrbeauftragter am Institut für Wertungsforschung und an der Abteilung für Komposition und Musiktheorie. Verfasser wissenschaftlicher Arbeiten zu Fragen zeitgenössischer Ästhetik; seit 1995 Vertragslehrer für Musiktheorie (Tonsatz, Kontrapunkt, Analyse) an der Kunstuniversität Graz; künstlerischer Leiter der Konzertreihe "open music"; 1998-2000 Dirigent und Kapellmeister bei den Vereinigten Bühnen Wien und 1999 musikalischer Leiter am Stadttheater Klagenfurt. Als Dirigent Zusammenarbeit mit "Klangforum Wien", "Grazer Symphonisches Orchester", "Orchester der Vereinigten Bühnen Wien", "Orchesterprojekt Mürzzuschlag", "Philharmonisches Orchester Zagreb", "Opernorchester Klagenfurt" und div. Kammerensembles. Gründete 1994 das Kammerensemble "szene instrumental".
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