Notre Dame

Frühgotische Instrumentalmusik

Notre Dame

Frühgotische Instrumentalmusik
Sa, 10.04.1999, 20:00 Uhr

Das Schömer-Haus

Der heutige Abend stellt eine der wichtigsten erhaltenen Kompositionen aus dem 14. Jahrhundert ins Zentrum: die berühmte La Messe de Nostre Dame des französischen Komponisten Guillaume de Machaut (1300 - 1377), einem Universalgelehrten, der auch als Dichter, Kleriker und Politiker hervorgetreten ist.
Der heutige Abend stellt eine der wichtigsten erhaltenen Kompositionen aus dem 14. Jahrhundert ins Zentrum: die berühmte La Messe de Nostre Dame des französischen Komponisten Guillaume de Machaut (1300 - 1377), einem Universalgelehrten, der auch als Dichter, Kleriker und Politiker hervorgetreten ist.

Die Aufführung dieses Werkes durch das Wiener Vokalensemble NOVA erfolgt aber nicht in einer - dem damaligen Denken völlig fremden - konzertanten Form, sondern berücksichtigt den gesamten Kontext des Gesamtkunstwerkes Messe: zwischen den von Machaut vertonten Messteilen Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei (dem sog. Ordinarium) werden dem damaligen Brauch folgend die wechselnden liturgischen Abschnitte (das Proprium) als einstimmige "gregorianische" Choräle gesungen, in die zudem noch eine weitere mehrstimmige Komposition Machaut - sein bekannter Hoquetus David - eingebettet ist.

Umrahmt wird diese Messe von zwei Motteten - einer geistliche von Philippe de Vitry, und einer weltliche des sonst unbekannten Komponisten Philippus Royllart.

Das SCHÖMER-HAUS verwandelt sich an diesem Abend in eine gotische Kathedrale: Seine außergewöhnliche architektonische Struktur mit den umlaufenden Galerien und dem offenen Stiegenhaus erlaubt es, Entsprechungen zu der komplexen Raumstruktur gotischer Kirchenräume herzustellen, die wiederum über eine kathedralenartige Akustik vermittelt werden.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES



Programm


Philippe de Vitry (1291 - 1361): Vos qui admiramini /Gratissima virginis / Gaude gloriosa
3st. Motette


Guilleaume de Machaut (ca. 1300 - 1377): Missa Notre Dame

Introitus: Gaudeamus omnes (Choral)
Kyrie
Gloria

Graduale: Audi filia (Choral)

Alleluia: Nativitas gloriosae Virginis Mariae (Choral) - Hoquetus David (Machaut)

Sequentia: Hac clara die (Choral)
Credo

Offertorium: Diffusa est gratia (Choral)

Sanctus / Benedictus
Agnus Dei

Communio: Diffusa est gratia (Choral)
Ite missa est / Deo gratias


Philippus Royllart (14. Jhdt.): Rex Karole, Johannes genite / Leticie, pacis, concordie / /Virgo prius ac posterius)
isorhythmische Motette


Ausführende

Vokalensemble NOVA
Leitung: Colin Mason

Solisten:

James Curry: Triplum
Bernd Lambauer: Motetus
Gerd Kenda: Tenor
Colin Mason: Contratenor

Choralsänger:

Jörg Duit, Martin Fournier, Mario Eder, Michael Gerzabeck, Erich Klug, Thomas Künne, Jean-Jacques Rousseau, Walter Wegscheider
Glockengeläute:

Ulli Groier, Johanna Wölfl



Colin Mason
Anmerkungen zum Programm

Den Hauptteil unseres Programms bildet Machauts berühmte Messe de Nostre Dame: in unserer Aufführung hören Sie das Werk im Rahmen verschiedener Choräle des Hochamts zum Fest Mariae Geburt, einem der höchsten marianischen Feiertage des Kirchenjahres, der an jenen Orten, wo im vierzehnten Jahrhundert liturgische Mehrstimmigkeit gepflegt wurde, besonderen Anlaß zur Ausschmückung des Ritus durch Anwendung von Polyphonie anbot.

Durch die Einbettung der Ordinariumvertonung Machauts in einen großzügigen rituellen Rahmen vermeiden wir den Anachronismus (der noch häufig in Konzertprogrammen auftritt), alle Meßsätze gleich hintereinander vorzutragen, und verschaffen der Polyphonie eine Art Atempause, durch welche, so glauben wir, die gewaltige Kraft der virtuosen und komplexen Musik Machauts am besten zur Geltung kommt.

Die Choräle entstammen einer Reimser Quelle aus dem 14. Jahrhundert (mit Ausnahme der in dieser Quelle korrumptierte Sequenzmelodie, die nach einer Pariser Handschrift der Epoche berichtigt wurde) und unterscheiden sich in vielen Details von den Melodien, die sich in den heutzutage gängigen Choralbüchern befinden. Auch die Vortragsweise wird manchem Gregorianik-Kenner ungewohnt vorkommen: die flexible und subtile rhythmische Gestaltung des früheren Choralgesangs war jedoch, wie die Quellen belegen, bis zum vierzehnten Jahrhundert fast überall zum weniger feinsinnigen "Äqual"-Gesang degeneriert.

Quasi als Einleitung zur Ars Nova bzw. als Ausklang der Epoche fungieren Vitrys marianische Motette Vos qui admiramini / Gratissima / Gaude Gloriosa und Royllarts prachtvolle Huldigungsmotette Rex Karole / Leticie, pacis concordie / (Virgo prius ac posterius).


Die Ars Nova: Philippe de Vitry

Der Begriff Ars Nova entstammt einem Musiktraktat, der ca. 1322 von Philippe de Vitry in Paris veröffentlicht wurde. Der Verfasser behandelt darin allerdings eher die technischen Aspekte, wie z. B. rhythmische Strukturierung und deren Notierung, als Fragen der Ästhetik. Die neuen Entwicklungen der Notation, die in Vitrys Traktat vorgestellt und kodifiziert werden, öffneten französischen Komponisten des 14. Jahrhunderts neue Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks, die in ihrer Reichweite enorme Fortschritte gegenüber der Musik der vorigen 50 - 60 Jahre (der Ars Antiqua) erlaubten. Die Periode 1315 - 1325 wird daher von der modernen Musikwissenschaft als einer der wichtigsten Wendepunkte der Musikgeschichte anerkannt.

Sowohl aus den erhaltenen Kompositionen dieser Zeit, als auch aus den Kritikpunkten, die gegen sie erhoben wurden (in der Bulle Docta sanctorum aus dem Jahre 1325 wetterte Papst Johannes XXII. gegen die neue Schule, bei der der Text bloß als Vorwand der Musik diene, und bei der die Melodie durch die Hoquetierung entstellt werde), läßt sich ein neues musikalisches Regelwerk erkennen, das nur den eigenen Gesetzmäßigkeiten genügt - ars gratia artis.

Der Musiktheoretiker, Komponist und Intellektuelle Philippe de Vitry studierte an der Sorbonne, war am französischen Hof als Berater und Sekretär dreier sukzessiver Monarchen tätig, übernahm etliche politische und diplomatische Dienstaufträge, unter anderem am päpstlichen Hof in Avignon, und wurde 1351 zum Bischof von Meaux ernannt. Von Francesco Petrarca wurde er nicht nur als "ein so großer Philosoph unseres Zeitalters" sondern auch als "der unvergleichliche Dichter Frankreichs" bewundert. Vitry genoß ebenfalls die unbeschränkte Anerkennung zeitgenössischer Musiker. Hinsichtlich seines großen Rufes ist es um so trauriger, daß uns nur eine Handvoll seiner musikalischen Werke (etwa zwölf Motetten) sowie ein Bruchteil seines dichterischen Schaffens erhalten bleibt.


Guillaume de Machaut

Geboren um 1300 in Reims oder dessen Umgebung, war Machaut die führende musikalische und literarische Persönlichkeit im Frankreich des 14. Jahrhunderts. Um 1323 wurde er zum Sekretär Johanns von Luxemburg ernannt. Mit seinem Dienstgeber unternahm er viele Reisen und besuchte u.a. Prag, Schlesien, Polen und Litauen. 1337 wurde Machaut zum Kanonikus der Kathedrale zu Reims ernannt, und obwohl er im Laufe der zweiten Hälfte seines Lebens verschiedene Gönner hatte, scheint er die meiste Zeit in Reims verbracht zu haben. Seine Messe de Nostre Dame wurde höchstwahrscheinlich zur Aufführung in der dortigen Kathedrale verfaßt. Neben dem Theoretiker und Komponisten Philippe de Vitry gilt Machaut als führender Vertreter der französischen Ars Nova.


La Messe de Nostre Dame

Nur in einer der sechs wichtigen Machaut-Quellen wird dieses Werk, die erste Vertonung des Meßordinariums von einem namentlich bekannten Komponisten, La Messe de Nostre Dame betitelt. Obwohl nichts näheres über die Umstände ihrer Komposition bekannt ist (insbesondere gibt es keinen Beweis für die Vermutung, daß die Messe zur Krönung Karls V im Jahre 1364 geschrieben wurde), weisen stilistische Elemente und Eigenarten der Notation auf eine Entstehung zwischen 1335 und 1350 hin. Daß die verschiedenen Sätze der Messe über einen längeren Zeitraum geschrieben und erst später zusammengefügt wurden, liegt sehr wohl im Bereich des Möglichen.

Wir können Machauts Messe als gotische Ausschmückung der Choräle, auf denen sie basiert, betrachten. In sämtlichen sechs Sätzen verwendet Machaut eine gregorianische Melodie als Ausgangspunkt, wobei er sich der Choräle auf zwei verschiedene Arten bedient. In Gloria und Credo, die wegen der längeren Texte syllabisch im Conductus-Stil verfaßt sind, dient die Gregorianik zur Entwicklung von neuem melodischem Material; es erscheint als Paraphrase in der obersten Stimme. Dagegen tritt in Kyrie, Sanctus, Agnus Dei und Deo Gratias die jeweilige Choralmelodie als Cantus firmus im Tenor auf. Hier entfalten sich die melismatischen und reich verzierten Oberstimmen über einem langsamen Grundgerüst von Tenor und Contratenor. Dieser Stil (genau die Art von Musik, die für Papst Johannes XXII. ein Ärgernis darstellte) herrscht auch bei Machauts Motetten, dem Hoquetus David und einigen der anspruchvollsten Chansons des Komponisten vor.


Der Hoquetus David

Der in den Handschriften textlos überlieferte Hoquetus David wird üblicherweise für ein Instrumentalstück gehalten. Die drei Stimmen sind mit David Triplum, David Hoquetus und David Tenor bezeichnet. In unserem Programm wird das Stück als Vokalwerk präsentiert, und zwar im Rahmen des gregorianischen Alleluias, dem der Cantus firmus entstammt.

Die Prämissen für diesen Versuch sind folgende:

Ausgedehnte Mehrstimmigkeit auf einem einzigen Wort ist auch schon in der Notre-Dame Schule mehrere Generationen vor Machaut zu finden.
Die Komposition ist eine Ausschmückung der Liturgie (genauso wie die Messe Machauts) im Sinne der Organa des 13. Jahrhunderts.

In mehreren der Handschriften ist der Hoquetus gleich neben der Messe notiert. Dies könnte auf eine liturgische Verbindung zwischen der Messe und dem Hoquetus, der auf einem Gesang zu einem der höchsten marianischen Feiertage des Kirchenjahres basiert, hindeuten.


Phillipus Royllart: Rex Karole / Leticie, pacis concordie

Von Royllart sind uns keine biographischen Details bekannt, und seine Motette Rex Karole / Leticie, pacis concordie / Virgo prius ac posterius ist das einzige in den Quellen ihm zugeschriebene Werk. Die Motette ehrt den französischen König Karl V. (regierte 1364 - 1380), und geschichtliche Details im Text weisen auf ein Kompositionsdatum nach 1375 hin. Neben der Eigenschaft einer Lobpreisung des Monarchen Karls V. erhält die Motette auch einen marianischen Bezug dadurch, daß der Tenor auf den letzten vier Phrasen der Antiphon Alma redemptoris mater basiert.


Vokalensemble NOVA (Wien)

Das junge Vokalensemble hat seit seiner Gründung 1992 bei Publikum und Presse gleichermaßen Beachtung gefunden. NOVA hat sich zum Ziel gesetzt, sowohl Kompositionen aus der Blütezeit der a cappella Vokalmusik - der Renaissance - als auch Werke des Mittelalters, des Barock und des zwanzigsten Jahrhunderts in solistischer Besetzung aufzuführen.

Das Ensemble besteht aus einem Kern von sechs Sänger/innen, die neben klassischer Ausbildung reiche Erfahrung mit angesehenen Dirigenten und Ensembles im In- und Ausland haben. Für gewisse Projekte tritt das Ensemble allerdings auch mit weniger als sechs Mitgliedern auf, für andere Programme werden zusätzliche Sänger oder Instrumentalisten eingeladen, um die klanglichen Möglichkeiten zu erweitern.

Dem Vokalensemble NOVA ist es auch ein Anliegen, verschiedene nichtmusikalische Aspekte der Kulturgeschichte als Anreiz dafür zu nehmen, Konzertprogramme auf ganz bestimmte Anlässe abzustimmen.

Zu den bisher wichtigsten Projekten NOVAs zählen Auftritte in Graz bei der "styriarte" (1994, 1998) und beim Musikprotokoll des ORF-Landesstudios Steiermark (1997), die Mitwirkung (sowohl szenisch als auch akustisch) bei der Neuinszenierung von Hofmannsthals Jedermann bei den Salzburger Festspielen 1995, eine von der Jeunesse veranstaltete Österreich-Tournee (1996) sowie Auftritte im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins und im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses. In Zusammenarbeit mit dem angesehenen Instrumentalensemble Klangforum Wien sang das Ensemble auch bei Festivals für neue Musik in Zürich und Strasbourg. Weiters hat NOVA bei zwei CD-Produktionen (Jean Barraqués Le temps restitué; Beat Furrers Narcissus) des Klangforum Wien und bei einer CD-Aufnahme der Wiener Akademie mitgewirkt.

In der Saison 1997-98 war NOVA u.a. bei den Haydn-Festspielen Eisenstadt, der "styriarte", dem Musikprotokoll im Steirischen Herbst und den Züricher Tagen für neue Musik zu Gast. Im Sommer 1998 war NOVA auch zum vierten Mal bei den Salzburger Festspielen zu hören.
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