Adventkonzert 1997

Aphorismen

Adventkonzert 1997

Aphorismen
Sa, 13.12.1997, 20:00 Uhr

Das Schömer-Haus

Das diesjährige Adventkonzert im SCHÖMER-HAUS stellt ein Experiment dar: die Konfrontation von extrem kurzen Kammermusikwerken mit der berühmten Kammersymphonie von Arnold Schönberg, die wiederum eine ineinandergeschobene viersätzige "klassische" Symphonie darstellt.
Das diesjährige Adventkonzert im SCHÖMER-HAUS stellt ein Experiment dar: die Konfrontation von extrem kurzen Kammermusikwerken mit der berühmten Kammersymphonie von Arnold Schönberg, die wiederum eine ineinandergeschobene viersätzige "klassische" Symphonie darstellt. Bis auf das eingangs gespielte "Adagio" aus Bergs Kammerkonzert entstanden alle Kompositionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts - zu einer Zeit, als es nicht nur im Bereich der Kunst an allen Ecken und Enden brodelte und krachte.

Diese Aphorismen können als verzweifelte Reaktion auf die Orientierungslosigkeit verstanden werden, die mit der Auflösung der seit 250 Jahren gültigen Dur-Moll-Tonalität einherging; als sich diese in einem kontinuierlichen historischen Prozeß gleichsam von selbst verflüchtigt hatte, konnten sich die drei Komponisten der sog. "Zweiten Wiener Schule" nur mehr auf ihren Instinkt und das vielbeschworene "innere Ohr" verlassen und schufen so - jenseits von jeglichem Systemzwang - die vielleicht schönste und berührendste Musik unseres Jahrhunderts. Diese zeitlich äußerst knapp bemessenen Stücke erscheinen sie in ihrer Konzentration und Fülle als extrem verdichtetes musikalisches Denken, in dem "ein Roman durch eine einzige Geste, ein Glück nur durch ein einziges Aufatmen" ausgegedrückt wird, wie es Schönberg im Vorwort von Weberns Bagatellen op. 9 schrieb.

Und auch heute ergeht wieder die Einladung an Sie, sich diesen feinziselierten Klangpreziosen öffnen, die von so wunderbaren Musikern wie Christian Altenburger, András Adorján, Elmar Schmid, Franz Bartolomey und Marino Formenti kenntnisreich interpretiert wird, und beim Hören die Klänge in sich selbst zu ihrer eigenen Musik werden zu lassen.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES




Programm


Alban Berg (1885 - 1935)
"Adagio" aus dem Kammerkonzert (1923 - 1925)
in Alban Berg's Bearbeitung für Geige, Klarinette und Klavier

Arnold Schönberg (1874 - 1951)
Klavierstücke op. 19 (1911)

Anton Webern (1983 - 1945)
Drei kleine Stücke op. 11 (1914)
für Violoncello und Klavier

Alban Berg (1885 - 1935)
Vier Stücke op. 5 (1913)
für Klarinette und Klavier

Anton Webern (1983 - 1945)
Vier Stücke op. 7 (1910)
für Violine und Klavier

* * *

Arnold Schönberg (1874 - 1951)
Kammersymphonie op. 9 (1906)
in der Kammermusikbearbeitung von Anton Webern



Ausführende

Christian Altenburger: Violine
András Adorján: Flöte
Elmar Schmid: Klarinette
Franz Bartolomey: Violoncello
Marino Formenti: Klavier




Manfred Angerer
Kürzen


Ars longa, vita brevis, heißt es seit altersher. Kurz ist das Leben, lange die Kunst. Zwar ist es seitdem gelungen, das menschliche Leben merklich zu verlängern (der Spruch findet sich zuerst im Corpus der hippokratischen Schriften), aber es reicht wohl immer noch nicht aus, um mit der Kunst, selbst dort, wo sie sich aufs äußerste verkürzte, zu Rande zu kommen.

Wer, wie der Autor dieser Zeilen, nach allzu kurzer Überlegung einen Text über Musikstücke von Minutendauer versprach, gelangt nach langwierigen Überlegungen zu spät zur Einsicht: Manche Kompositionen sind einfach zu konzentriert, um kurz über sie schreiben zu können, und die erforderliche Länge des Textes erscheint angesichts der Kürze der Stücke lächerlich anmaßend. Vor der beherrschten Knappheit solcher Musik erhält alles Reden etwas charakterlos Geschwätziges. Was immer man sagen könnte, ist einfach zu weitschweifig und zu rhetorisch, es beansprucht zu viel Zeit. Wo man zu argumentieren versucht, verliert man im schwerfälligen Trott der Fakten und Beweise allzu rasch den flüchtigen Gegenstand aus den Augen. Die träge wissenschaftliche Apparatur des an den eineinhalbstündigen Galeerentakt der Vorlesungen gewöhnten Universitätslehrers läßt sich gleicherweise schwer lenken wie zum Stehen bringen. Die Grammatik selbst, der Zwang, einen Satz mit den nötigen Hilfszeitwörtern auszustatten, auf die Übereinstimmung von Verb und Nomen zu achten und die Nebensätze mit dem Hauptsatz gehörig zu verbinden, verleiht dem Text etwas vom Schwulst einer barocken Leichenrede, an deren Ende sich niemand mehr erinnert, wer denn da zu Grabe getragen worden.

Schönberg zwar eröffnet 1924 sein knappes Vorwort zu Weberns Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9, dessen sinnige Lektüre etwa so viel Zeit beansprucht wie die ersten drei folgenden Stücke, mit den Worten: "So eindringlich für diese Stücke die Fürsprache ihrer Kürze, so nötig ist andererseits solche Fürsprache eben für diese Kürze." Freilich wären die Werke zu bedauern, wenn sie nach so langer Zeit noch eines musikologischen Fürsprechers bedürften, und überdies steht uns das Pathos des Wiener Schulhaupts nicht mehr zur Verfügung ("Feuer und Schwert können [die Heiden] zur Ruhe verhalten; in Bann zu halten aber sind nur Gläubige").

Ich erlaube mir daher, den Schauplatz, auf dem ich wie meine Leser so wenig zu gewinnen haben, gegen einen günstigeren zu vertauschen. Nicht von den berühmten kurzen Stücken der Wiener Schule soll im Folgenden die Rede sein sondern von dem diese Stücke tragenden Konzept der musikalischen Kürze selbst. Kurze Musikstücke hat es ja in der abendländischen Kompositionsgeschichte immer gegeben, und sie haben - wie nicht anders zu erwarten - kein besonderes Aufsehen erregt. Klar ist auch seit dem Heiligen Augustinus der Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Zeit. Eine erfüllte, glückliche Stunde erscheint uns eben nicht länger als die Langeweile von Minuten. Welche Bedeutung etwa der Hinweis in einem CD-Beiheft haben könnte, daß das zweite von Weberns Cello-Stücken op. 11 genau 27 Sekunden dauere, ist daher nicht unmittelbar einzusehen. Wenn uns das Stück ergreift, ist seine objektive Dauer doch fast bedeutungslos. Unverkennbar aber ist ein solches Stück nicht einfach sehr kurz, es ist sozusagen von emphatischer Kürze. Der Komponist ist sichtlich stolz, etwas so Kurzes geschrieben zu haben, er hat das Unerwartete gewagt und uns selbstbewußt eine längere musikalische Entwicklung verweigert. Gleichzeitig aber ist der Künstler - und das verraten sowohl die Werke wie die zahlreichen Kommentare Weberns wie Schönbergs zum Problem des kurzen Stücks -, gleichzeitig also ist der Künstler geradezu erschrocken über die hermetische Winzigkeit seines Produkts. Daß es nicht länger geriet, scheint zuallererst ihn selbst zu verstören. Die unauflösliche Verquickung von Trotz und Erschrecken, von Wagemut und Verunsicherung verleihen den kurzen Stücken der radikalen Wiener Moderne einen Charakter, der älteren kleinen Kompositionen gänzlich gefehlt hatte: Diese Werke sind ungemein pathetisch.

Wie kam es also zu dieser erstaunlichen Verbindung von Kürze, Radikalität und Pathos?

Es begann - wie könnte es anders sein? - bei Beethoven. Beethovens reifes Schaffen ist von zwei gegensätzlichen Tendenzen bestimmt. Einmal ist er der Schöpfer "großer" Musik im emphatischen Sinne. "Große" Musik spricht sich in "großen" Formen aus, je größer die leitenden Ideen (Heldentum oder Menschheitsbefreiung) desto länger müssen solche Werke offenbar dauern. Beethoven monumentalisiert nahezu alle Gattungen: die Kreutzer-Sonate, das 1. Rasumofsky-Quartett, die Eroica und die Neunte, das 5. Klavierkonzert, das Erzherzogs-Trio und die Hammerklavier-Sonate. Unter einer Dreiviertelstunde ist hier fast nichts zu haben, und die Nachfolger werden sich nach Kräften bemühen, noch längere Stücke zu komponieren. Gleichzeitig aber läßt sich bei Beethoven ein ausgesprochener Hang zur Reduktion der (von ihm selbst vorgegebenen) Dimensionen beobachten. Am deutlichsten wohl in jenen kurzen Klavierstücken, die er selbst in drei Sammlungen (op. 33, 119 und 126) unter dem ironischen Titel Bagatellen veröffentlichte. (Das zehnte Stück aus op. 119 ist gerade eine Notenzeile lang und unterbietet damit auch noch Webern. Aber diese klassizistische Minimal Music ist weder tiefsinnig noch pathetisch, sie schockiert durch auftrumpfende Banalität.)

Das Bemühen um die große musikalische Form entsprach den ästhetischen Leitideen des 19. Jahrhunderts. Eine Zeit, die generell das monumentale Historienbild höher bewertete als die kleinformatige Genremalerei, der eine fünfaktige historische Tragödie fast automatisch mehr galt als eine im zeitgenössischen Milieu angesiedelte Novelle, eine solche von historischer Bedeutsamkeit und großen Ideen faszinierte Zeit mußte auch die "große" Oper, das "große" Oratorium und die "große" Symphonie auf Kosten der "kleinen" Formen von Lied, Klavier - und Kammermusik bevorzugen. (Bruckner nannte Schumanns Symphonien, die dieser groß genug intendiert hatte, herablassend "Sinfonietten", sie waren einfach nicht lang genug.) Das Ganze gipfelt um die letzte Jahrhundertwende in monströsen Werken wie Busonis Klavierkonzert mit Männerchor, dem Heldenleben und der Alpensinfonie von Richard Strauss und Mahlers Dritter und Achter. Auch die anderen Instrumentalgattungen waren nach Beethovens Vorbild längst monumentalisiert worden.

Den späteren Selbstdarstellungen der Wiener Schule zufolge nötigte der Verzicht auf die einheitsstiftende, tragende Tonalität Schönberg, Webern und Berg ab ca. 1908 dazu, die Dimensionen ihrer neuen, frei atonalen Werke drastisch zu reduzieren. Nun gab es ja keine allgemeingültige Grammatik des Tonsatzes mehr, die die Formulierung längerer, differenziert gebauter musikalischer Sätze erlaubt hätte. Einen Ausweg habe hier einzig Vokalmusik geboten. Durch das Entlangkomponieren am Text, in dem Webern "eigentlich etwas Außermusikalisches" erblickte, "wurden die Teile [des Stücks] genauso deutlich differenziert wie früher durch die tonalen und strukturellen Funktionen der Harmonie" (Schönberg). Mit Schönbergs Methode der "Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen" habe seit Mitte der Zwanzigerjahre wieder die Möglichkeit bestanden, große, autonome musikalische Formen zu schaffen. (Webern: "Erst als Schönberg das Gesetz aussprach, wurden größere Formen wieder möglich.")

Solche keineswegs vereinzelten Äußerungen geben deutlich zu erkennen, daß die Wiener Schule noch in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts an den ästhetischen Wertungen der Spätromantik festhielt, selbst dort, wo diese Wertungen eine wenigstens partielle Kritik der eigenen früheren Werke erzwangen. Deren künstlerischer Anspruch wurde mit einem im Grunde moralischen Argument behauptet: Es habe Mut erfordert, das Notwendige (den Verzicht auf die zusammenhangstiftende Tonalität) zu akzeptieren, selbst um den Preis, das Ziel, die Komposition "großer" Werke, für einige Zeit aus den Augen zu verlieren. "Als ob das Licht erloschen wäre!", ruft Webern in der Erinnerung an die heroische Zeit der freien Atonalität aus. Aber sie verzagten nicht und vermochten endlich auch im Dunkel ihren richtigen Weg zu finden.

So sehr der Hinweis auf die technischen Konstruktionsprobleme frei atonaler Musik zunächst überzeugt, so wenig stimmen die tatsächlich komponierten Werke damit überein. Weberns zwölftönige Werke sind kaum merkbar länger als die vorangegangenen frei atonalen. Seine längsten, von ihm selbst publizierten Instrumentalkompositionen stammen aus der Krisenzeit der kurzen Stücke (Fünf Sätze für Streichquartett op. 5, Sechs Stücke für großes Orchester op. 6). Bergs Streichquartett op. 3 und die Orchesterstücke op. 6 sind weitaus länger als seine Vertonung von Ansichtskarten-Texten Peter Altenbergs( op. 4). Schönbergs Orchesterstücke op. 16 sind zwar kurz, doch ein Bühnenwerk wie Die glückliche Hand (op. 18) ist nur um wenige Minuten länger usw.

Alle die genannten Werke, denen noch Schönbergs Klavierstücke op. 11 und Bergs Klarinettenstücke op. 5 anzureihen wären, sind nicht kürzer als die meisten der überaus zahlreichen kleinen Instrumentalwerke des 19. Jahrhunderts, man denke an Schuberts Moments musicaux oder an die Drei Intermezzi op. 117 von Brahms. Einige angesehene Komponisten wie Chopin, der junge Schumann, Ljadow, Skrjabin oder Satie hatten sich in hohem Maße mit solchen kleindimensionierten Stücken zufriedengegeben. Was ihre Werke von den kurzen Stücken der Wiener Schule unterscheidet, ist nicht ihre Länge sondern der Gebrauch, für den sie bestimmt waren und dessen Anforderungen sie zu genügen vermochten.

Die "kleine Musik" des 19. Jahrhunderts ist fast ausnahmslos für zwei Bereiche bestimmt: das private, häusliche Musizieren der (meist dilettantischen) Musikliebhaber und den öffentlichen Prunkauftritt des Virtuosen. Beide Bereiche sind meistens deutlich voneinander geschieden: Schumanns Kinderszenen taugen nach den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts nicht zum öffentlichen Vortrag, seine Toccata und Paganini-Bearbeitungen würden in der privaten bürgerlichen Idylle nur stören. Die kurzen Stücke der Wiener Schule sind nun in der Regel technisch so schwer wie Virtuosenmusik, ohne die Anstrengungen der Spieler durch unmittelbaren Effekt zu belohnen, und sie verlangen gleichzeitig eine intensive, selbsttätige Auseinandersetzung, die bisher nur an Musik geübt wurde, die man selber zu spielen vermochte. Praktisch ist der Adressat dieser Musik der hingegeben lauschende Hörer, der, um dieser Musik wirklich folgen zu können, eigentlich in der Lage sein müßte, sie selbst zu spielen.

Eine Bach-Fuge oder ein Brahms-Intermezzo mag so dicht gearbeitet sein wie möglich; die Kombination von technischer Komplexität und Kürze schafft hier keine Probleme, denn das Stück kann nicht bloß gehört, es soll allererst gespielt werden. Dieses Selberspielen setzt eine intensive Beschäftigung mit dem Stück voraus, für die dessen reale Spielzeit bedeutungslos ist: Das Stück will geübt sein, der Spieler kennt zwangsläufig den Notentext genau, er beschäftigt sich mit dem Stück über einen längeren Zeitraum, kann es immer wieder anders interpretieren usw.

Die solistisch besetzten kurzen Stücke der Wiener Schule sind hingegen Konzertmusik, auch wenn sie so tun, als wären sie bloß Kammermusikwerke, die die selben Funktionen erfüllen wie bei Brahms. Für den Konzertbetrieb sind sie in der Tat wohl bis heute zu komplex, um so kurz sein zu dürfen. Und für das private Musizieren sind sie zwar lang genug, aber technisch zu anspruchsvoll. Wer diese Werke technisch zu meistern versteht, ist in der Regel auch jemand, der sie ohnedies öffentlich spielt. Das private Musizieren wird so zur Konzertprobe und verändert damit seinen Sinn.

In diesen kompromißlosen Stücken wird also durch die neuartige Verbindung von kompositionstechnischer Komplexität, virtuoser Spieltechnik und äußerster Kürze gleichsam der Raum, in dem Musik hinfort angesiedelt erscheint, in ersten Konturen sichtbar. Der Gegensatz von öffentlich und privat, der in etwa mit dem Gegensatz von großer und kleiner Form zusammenfiel, wird illusorisch. Alle Musik wendet sich nun an einen fiktiven Personenkreis, an aufmerksame, kontemplative Hörer, die sich - aus ihren lebensweltlichen Kontexten isoliert - allein dem Stück gegenüber sehen, dessen Forderungen sie zu genügen haben. Die Kompositionen selbst nehmen dabei keine Rücksicht mehr auf die Bedingungen, unter denen ihnen der Hörer tatsächlich begegnet. Und es kann genau besehen auch gar nicht anders sein. Denn die traditionellen "Räume" - das große Konzert, der bürgerliche Salon und die private Häuslichkeit der Kammermusik - waren an gesellschaftliche und musikalisch-technische Konstellationen gebunden, die im 20. Jahrhundert immer merklicher an Geltung verloren, bis sie schließlich völlig verschwanden.

Die realen, streng voneinander gesonderten Räume der bürgerlichen Musik sind inzwischen längst in jenem allgemein zugänglichen, virtuellen Raum aufgegangen, den wir uns früher mit Hilfe von LPs, nun durch CDs immer und überall evozieren können. Das Öffentliche ist im Privaten gleichsam versunken, wir hören Musik, die uns in ähnlicher Weise wie zuvor nur selber gespielte verfügbar ist. Wir machen diese Musik zwar nicht selbst, zumindest nicht in dem Sinne, in dem früher von "Musik machen" die Rede war, aber wir besitzen eine beliebig oft wiederholbare Aufnahme und können z. Bsp. "mitlesen". Die Lektüre des Notentextes hat mittlerweile die alte Musizierpraxis wenigstens tendenziell ersetzt. Damit haben die kurzen Stücke der Wiener Schule eine Existenzform erreicht, in der viele ihrer ursprünglichen Probleme gelöst zu sein scheinen. Der "Kenner" behandelt sie nun etwa so wie ein hermetisches Gedicht, das sich ja auch nicht primär im Vortrag eines Schauspielers erschließt, sondern der ausdauernden, immer neu ansetzenden eigenen Interpretation bedarf. Im Unterschied zum Gedicht, das wir stumm selber zu lesen vermögen, brauchen die meisten von uns bei Musik allerdings einen professionellen Vortragenden.

Im späten 19. Jahrhundert hatten sich die kompositionstechnischen Gattungsdifferenzen, die sich aus der Trennung von Öffentlichem und Privatem ergeben hatten, allmählich wieder zu verwischen begonnen. Für die große Symphonie war seit Beethoven eine monumentale, relativ schlichte Schreibweise charakteristisch gewesen, gleichsam ein musikalisches al fresco. Große Musik wandte sich eben an ein großes, nicht speziell musikalisch gebildetes Publikum. Subtilere Gestaltungsmittel blieben meist der elitären Kammermusik vorbehalten. Um die letzte Jahrhundertwende, bei Reger und dem jungen Schönberg etwa, sind diese Unterscheidungen praktisch verschwunden. Regers Symphonischer Prolog oder Schönbergs Pelleas und Melisande zeigen dieselbe kompakte Schreibweise wie die gleichzeitige Kammermusik der beiden Komponisten. Die Werke unterscheiden sich technisch nur durch das eingesetzte Instrumentarium. Schönbergs Pelleas erscheint daher fast wie ein einstündiges Kammermusikwerk für ein riesiges Ensemble, sein d-Moll-Quartett op. 7 wie eine einstündige Symphonie in Streichquartettbesetzung.

Exemplarisch läßt sich dieser Vorgang an einer Werkbezeichnung wie "Kammersymphonie" studieren. Der Begriff stammt aus dem 18. Jahrhundert und bezeichnet ein Orchesterwerk, das weder im Opernhaus (als Opernsinfonia) noch in der Kirche (als Sinfonia eines Oratoriums) gespielt, sondern in einer der Vorformen des bürgerlichen Konzerts in einem privaten, halb-öffentlichen oder öffentlichen weltlichen Rahmen zu Gehör gebracht wird. Dasselbe Werke konnte je nach Aufführungsanlaß als Opern - oder als Kammersymphonie gelten, die Definition orientiert sich nicht an der technischen Faktur der Komposition sondern bloß an ihrem sozialen Gebrauch. Im 19. Jahrhundert, als sich die Bereiche des Privaten und des Öffentlichen musikalisch deutlich geschieden hatten, bleibt Symphonie dem großen, repräsentativen Orchesterwerk im Rahmen des Konzerts vorbehalten. Schönbergs 1. Kammersymphonie für 15 Solo-Instrumente op. 8 von 1906 hält nun zwar am Anspruch der großen symphonischen Gattung fest, realisiert ihn aber mit reduzierten, gleichsam kammermusikalischen Mitteln (solistische Besetzung). Man weiß nicht so recht, ob man es mit monumentalisierter Kammermusik oder mit Orchestermusik en miniature zu tun habe. Schönberg selbst hat sein Opus 1935 für großes Orchester bearbeitet, was also eine Kammersymphonie für großes Symphonieorchester ergibt. Webern hat das Werk schon 1922/23 auf eine kammermusikalische Besetzung (die von Schönbergs Pierrot lunaire) reduziert, daraus also eine Kammersymphonie für Klavierquintett gemacht.

Weberns Bearbeitung orientiert sich an den Transkriptionen für den von Schönberg 1918 in Wien gegründeten Verein für musikalische Privataufführung. In dem von Alban Berg verfaßten Vereinsprospekt heißt es u. a.: "Die Aufführungen [...] sind dem korrumpierenden Einflüsse der Öffentlichkeit entrückt. [...] Daher sind die Aufführungen nicht öffentlich. [...] Besprechungen der Aufführungen in Zeitungen sowie jede Reklame für Werke oder Personen unzulässig. Bei den Aufführungen sind alle Beifalls-, Mißfalls - und Dankesbezeugungen ausgeschlossen." usw. All das fand zwar in öffentlichen Konzerträumen statt, die man aber in private umfunktioniert hatte. Man tat so, als wäre man nicht im Konzert, sondern kommuniziere unmittelbar nur mit Musik. Was sich in den radikalen Stücken um 1910 angekündigt hatte, eine prinzipielle Veränderung des Umgangs mit Musik, sollte hier erstmals praktisch realisiert werden. Wie gesagt, all das, Vermeidung der Öffentlichkeit, Reduktion des Hörers aufs kontemplative Vernehmen, Verzicht auf Dankesbezeigungen und Kritik, all das läßt sich durch CDs bequemer, freilich lange nicht mehr so heroisch verwirklichen. Interessant ist vielleicht, daß die radikalsten kurzen Stücke der Wiener Schule, Schönbergs Klavierstücke op. 19 und Weberns Cellostücke op. 11, im Verein für musikalische Privataufführungen nie zu hören waren.



BIOGRAPHIEN

Christian Altenburger studierte in seiner Heimatstadt Wien an der Musikhochschule, graduierte 1974 und ging anschließend nach New York, um seine Studien bei Dorothy DeLay an der Juilliard School fortzusetzen. Seit 1990 ist er selbst als Professor für Violine an der Musikhochschule Hannover tätig.

In seiner Tätigkeit als Solist arbeitet Christian Altenburger mit Dirigenten wie Claudio Abbado, Zubin Metha, Karl Böhm, Christian von Dohnanyi, Lorin Maazel, Rafael Frühbeck de Burgos und Wolfgang Sawallisch zusammen, und spielte u.a. mit den Wiener Philharmonikern, den Wiener Symphonikern, den Berliner Philharmonikern, dem Concertgebouw Orchester und dem London Symphony Orchestra.

Neben dem klassisch-romantischen Repertoire widmet sich Christian Altenburger vor allem den Werken der Zweiten Wiener Schule und der zeitgenössischen Musik. Als Solist und Kammermusiker ist er Gast bei den Salzburger Festspielen, den Dresdner Musikfestspielen, den Wiener Festwochen und den Musikwochen Luzern.


András Adorján wurde in Budapest geboren, wuchs in Kopenhagen auf und ist seit 1974 in München beheimatet. Nach dem Erwerb eines zahnärztlichen Diploms begann er 1968 ein Flötenstudium bei Aurèle Nicolet und Jean-Pierre Rampal. Rasch folgten Auszeichnungen bei internationalen Wettbewerben.

Als Solist musiziert András Adorján mit den besten Kammer- und Symphonieorchestern der Welt: zunächst als Soloflötist in den Symphonieorchestern von Stockholm, Baden-Baden und München. Seit 1987 ist er Professor an der Musikhochschule Köln, seit 1996 an der Musikhochschule München.

András Adorján ist Gast vieler Festivals und widmet sich intensiv der Erweiterung der Flötenliteratur, indem er sowohl bisher vergessene Kompositionen (wie von Benda, Hummel, Moscheles, Reger und Spohr) wiederentdeckt, herausgibt, aufführt und einspielt, als auch zeitgenössische Komponisten (wie Denisov, Engel und Schnittke) zu neuen Werken anregt.


Franz Bartolomey wurde 1946 in Wien geboren und erhielt bereits mit sechs Jahren Unterricht im Cellospiel. Später studierte er an der Wiener Musikhochschule bei Richard Krotschak und privat bei Emanuel Brabec. Er war Preisträger bei internationalen Violoncellowettbewerben (Budapest 1963, Moskau 1966 und Wien 1967).

Seit frühester Jugend unternimmt er eine rege Konzerttätigkeit als Solist und Kammermusiker. Seit 1973 ist er Solocellist der Wiener Philharmoniker, daneben auch Mitglied mehrerer Kammermusikvereinigungen wie des "Wiener Solistenensembles" und der "Wiener Virtuosen". Daneben wirkt er auch als Solist unter den Dirigenten Leonard Bernstein, André Previn, Daniel Barenboim, James Levine und Simon Rattle und als Kammermusikpartner von Oleg Maisenberg, Ernst Kovacic, Tzimon Barta, Jessye Norman und Boris Pergamenschikow.

Franz Bartolomey wurde mit dem Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, dem Goldenen Verdienstzeichen des Landes Salzburg und dem Berufstitel Professor ausgezeichnet.


Elmar Schmid, geboren in der Schweiz, studierte Klarinette in Zürich und Mailand bei Marcel Wahlich, Hansjürg Leuthold und Karl Leister. Seine Ausbildung zum Theorielehrer erhielt er bei Hans Ulrich Lehmann und Rudolf Kelterborn.

Elmar Schmid unterrichtet an Konservatorium und Musikhochschule Zürich Klarinette und Kammermusik. Als Kammermusikpartner von Heinz Holliger wirkte er u.a. bei den Uraufführungen von dessen Quintett für Klavier und 4 Bläsern und von Beiseite mit.

Elmar Schmid ist Mitglied der "Oberwalliser Spillit".


Marino Formenti wurde in Italien geboren und studierte Klavier, Komposition und Dirigieren am Mailänder Konservatorium und anschließend bei Oleg Maisenberg. Im Rahmen seiner erfolgreichen solistischen Tätigkeit debütierte er 1993/94 im Wiener Konzerthaus und bei den Wiener Festwochen, sowie in der Chopin Akademie in Warschau und im Auditorio Nacional in Madrid.

Seine Auftritte führten ihn in den Wiener Musikverein, zu den Salzburger Festspielen, ins Tschaikowsky Konservatorium in Moskau, in die Sunytory Hall in Tokyo und zum Festival in Lockenhaus, wo er auch als Dirigent mitwirkte.

Als Solist arbeitet er u.a. mit den Dirigenten Ingo Metzmacher und Sylvain Cambrelaing zusammen. Er ist Kammermusikpartner von Gidon Kremer, Ruggiero Rici und Ernst Kovacic und Mitglied des Ensembles "Klangforum Wien".


Manfred Angerer, geboren 1953 in Niederösterreich, Studium der Musikwissenschaft und Kunstgeschichte in Wien, Promotion mit einer Arbeit über Skrjabin, Stipendiat der Humboldt-Stiftung an der FU Berlin, Habilitationsschrift über J. Haydn und die Musikästhetik des 18. Jahrhunderts (Förderungspreis Wissenschaft des Landes Niederösterreich), lehrt als ao. Universitätsprofessor für Musikwissenschaft an der Universität Wien, Publikationen zu Musikgeschichte und Ästhetik des 17. bis 20. Jahrhunderts.
1 / 1
Impressum