Scylla & Charybdis

trio accanto

Scylla & Charybdis

trio accanto
So, 30.06.1996, 20:00 Uhr

Das Schömer-Haus

Scylla & Charybdis: so hießen die beiden Ungeheuer, denen Odysseus auf seiner Fahrt begegnete. Dem "fürchterlich bellenden Scheusal" (Homer) der Scylla gegenüber befand sich der Strudel der Charybdis, der dreimal täglich das Meer in sich einschlürfte.
Scylla & Charybdis: so hießen die beiden Ungeheuer, denen Odysseus auf seiner Fahrt begegnete. Dem "fürchterlich bellenden Scheusal" (Homer) der Scylla gegenüber befand sich der Strudel der Charybdis, der dreimal täglich das Meer in sich einschlürfte. Odysseus konnte die Art seines Scheiterns wählen: entweder am Felsen der Scylla zu zerschmettern, oder von den Strudeln der Charybdis in die Tiefe gerissen zu werden.

Diese Gefahr dennoch heil überstanden zu haben, liegt an Odysseus Fähigkeit, einen - nicht vorgezeichneten - schiffbaren Weg dazwischen gefunden zu haben.

James Joyce bezieht sich im IX. Kapitel seines Ulysses auf die homerische Vorlage. Sein Held Stephen Daedalus "steuert mit dialektischer Geschicklichkeit hindurch zwischen dem Maelstrom der Metaphysik und dem Riff des Realismus" (Stuart Gilbert). Statt sich auf eine der beiden Alternativen festzulegen und daran zu scheitern, findet er seinen eigenen Weg, der beide Aspekte in einem Gleichgewicht vereint.

Auch das Hören von Musik kann zu einer Odyssee werden, zu einer Fahrt ins Ungewisse. Denn es gibt keinen verläßliche Route, die einem den Weg zum Parnaß erschließt. Wir selbst sind herausgefordert, hörend eine neue Welt zu entdecken, sich von ihr verzaubern zu lassen. Wie Odysseus mögen wir unserer Intuition und unserem Verstand gleichermaßen freien Lauf lassen, und in einem ständigen Austausch zwischen diesen Polen unseren persönlichen, angemessenen Weg finden. Diese Erfahrung könnte sich unmittelbar in unserem täglichen Leben niederschlagen: die Welt mit immer neuen Augen zu sehen.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES



Programm


Alvaro Carlevaro (* 1957)

otoño del ángel (1995)
für Saxophon, Klavier & Schlagzeug
Uraufführung


Ramón González-Arroyo (* 1953)

Charybdis' Muse and Scylla's Bloom (1994/95)
für Saxophon, Klavier, Schlagzeug und Live-Elektronik
Österreichische Erstaufführung


John Cage (1912-1992)

Music for 3 (1984-87)
Fassung für Saxophon, Klavier & Schlagzeug
Österreichische Erstaufführung



Ausführende


trio accanto (Freiburg / Basel / Stuttgart)

Klavier: Yukiko Sugarawa
Saxophon: Marcus Weiss
Schlagzeug: Christian Dierstein

Live-Elektronik & Tontechnik: Peter Böhm
Klangprojektion: Ramón González-Arroyo



Werke & Komponisten


Alvaro Carlevaro wurde 1957 in Montevideo (Uruguay) geboren. Zwischen 1979-85 studierte er an der Musikhochschule in Montevideo Gitarre bei Abel Carlevaro und Eduardo Fernandez, parallel dazu auch Musiktheorie. 1982-86 belegte er ein Kompositionsstudium bei Héctor Tosar und war 1988-92 Kompositionsschüler von Helmut Lachenmann an der Musikhochschule Stuttgart. Alvaro Carlevaro erhielt mehrere nationale und internationale Kompositionspreise in Uruguay, Venezuela, Mexiko, Belgrad, Mönchengladbach und Prag sowie Stipendien des DAAD, der Heinrich Strobel Stiftung (Südwestfunk) und der Akademie Schloß Solitude bei Stuttgart.


otoño del ángel (1995) - un homenaje
für Saxophon,Klavier und Schlagzeug

basiert auf einem Gedicht des uruguayischen Dichters Julio César Casal

Otoño

Otoño me vas dando tu mar dorado
voy por el acorde de tu agua
con mis señales últimas
de tierra
en tus cristales
tú y yo llorndo...

no sé si es de mi mar o de tus ojos
que se derrama el verdadero llanto.

das in der Übersetzung des Komponisten folgendermaßen lautet:

Herbst

Herbst, der Du mir Dein goldenes Meer gibst
gehe durch den Akkord Deines Wassers
mit meinen letzten Signalen
aus Erde
in Deinen Kristallen
Du und ich weinend...

Weiß nicht, ob aus meinem Meer oder Deinen Augen
das wahre Weinen überschwappt.



Ramón González-Arroyo wurde 1953 in Madrid geboren und erhielt dort seine musikalische Ausbildung am Conservatorio Superior de Musica und studierte in der Folge Komposition bei Luis de Páblo und C. Bernaola. Es folgten Kompositionskurse bei Franco Donatoni in Siena und bei H. Vaggione in Cuenca (elektro-akustische Musik). Außerdem besuchte er Kurse über Computermusik (Klangsynthese, Komposition, Psychoakustik, analoge Studiotechnik) am "Instituut voor Sonologie" an der Universität Utrecht (Werner Kaegi, Gottfried Michael Koenig), am Pariser IRCAM und bei der "Group de Recherche Musicale" (GRM).

González-Arroyo wirkte als Gastdozent und Forscher am Konservatorium in Den Haag und arbeitet mit anderen Komponisten und Wissenschaftlern wie Gottfried Michael Koenig und Gerhard Eckel an verschiedenen Forschungsprojekten zusammen, und zwar besonders auf dem Gebiet der computerunterstützten Komposition und der musikalischen Steuerung von Klangsynthese. Drei Jahre lang arbeitete er am IRCAM und entwickelte am Karlsruher "Zentrum für Kunst und Medientechnologie" (ZKM) das Kompositionsenvironment für synthetische Klanggenerierung "FOO". 1994 schrieb er im Auftrag des SCHÖMER-HAUS das Ensemblewerk Clockwork, das während des Festivals "Wien modern" hier seine Uraufführung erlebte.


Charybdis' Muse and Scylla's Bloom (1994/95)
für Saxophon, Klavier, Schlagzeug und Live-Elektronik

setzt sich aus neun kürzeren Stücken zusammen. [Mit Ausnahme der Gruppe, die von den Stücken VI - VIII gebildet wird, folgen sie mit kurzen Pausen aufeinander.] Vielleicht sollte man erwähnen, daß die Idee, ein "Stück aus Stücken" zu machen, die ursprüngliche Überlegung war, also weder ein späterer Gedanke noch das Resultat der lockeren Verbindung kleiner Einheiten. Die Entscheidung für diese Form hat mich selbst mit einer Frage konfrontiert, die mich immer interessiert hat: das Gefühl für Ganzheit oder Einheit in einer Ansammlung wohl charakteristischer, unterschiedlicher Individuen. Daß ich Stücken spreche und nicht etwa von Sätzen oder Teilen, weist hin auf autonome und abgeschlossene Einheiten, so daß ich mit verschiedenen kompositorischen Strategien innerhalb eines Gefüges arbeiten und mit ihren möglichen Verbindungen experimentieren konnte.

Wenn man das Stück als Ganzes betrachtet, gibt es auf der anderen Seite einen Prozeß der umfassenden Gestaltung. Er hat übergreifende Merkmale in den verschiedenen Stücken hinterlassen. Weil die Komposition eines Stückes nicht an einem Punkt ansetzt, sollte die letzte Bemerkung mir Vorsicht aufgenommen werden: denn es gibt keine klare Lösung des Henne-Ei-Problems. Wie auch immer, neben dem Spiel mit scheinbar natürlichen Verbindungen, die die Nachbarschaft von Raum und Zeit von selbst hervorbringt, war die Absicht, ein Netzwerk aus Beziehungen (in Bezug auf Material, Klangobjekte, musikalische Gesten) zu schaffen, die zwar im Hintergrund bleiben, doch in einer Art semantischen Orientierung weitere Hördimensionen erschließen.

Der Titel des Stückes bezieht sich auf nichts Besonderes im Einzelnen und auf alles Mögliche im Allgemeinen, was vielleicht ein allzu hoher Anspruch an einen Musiktitel ist. Jedenfalls werden keine antiken Monster im Stück dargestellt, auch wenn das von manchen als wünschenswert gehalten werden könnte. Außer, vielleicht... Es wäre jedenfalls nicht unwillkommen sich vorzustellen, daß "Bloomings" (Er-Blühendes, Strahlendes) und "Musings" (Nachdenkliches, Träumerisches) auf ihre Weise zwischen den geneigten Hörern erscheinen können.

Ramón González-Arroyo



John Cage wurde 1912 als Sohn eines Erfinders in Los Angeles geboren und starb 1992 in New York. Unschlüssig, ob er Schriftsteller, Maler oder Musiker werden soll, brach er sein Literaturstudium ab und ging nach Europa. Wieder zurückgekehrt wurde er Schüler von Arnold Schönberg, mußte aber versprechen, sein Leben ganz der Musik zu weihen.

Unbestritten ist Cage einer der größten Musiker unseres Jahrhunderts, der sich oftmals im Widerspruch zur herrschenden Ästhetik befand. Seine Einfluß reicht weit über das Feld der Musik hinaus: Cage, der in allen Bereichen der Musik gearbeitet hat und diese oftmals "multimedial" erweitert, ja gar gesprengt hat, hat auch als Philosoph, Maler, Dichter und Mykologe bleibenden Ruf erlangt.

In Lichte des Mottos dieses Konzertes betrachtet, erscheint Cage als der Stephen Daedalus der Neuen Musik. Ohne sich auf eine bestimmte Ideologie oder eine einseitige ästhetische Position festzulegen, schaffte er den Ausgleich zwischen den vermeintlichen Gegensätzen: Musik & die anderen Künste, Choice & Chance, Ton & Geräusch, Freiheit & Bindung, Ordnung & Chaos. Dadurch erzielte er auch eine neue Auffassung von musikalischem Hören, das den Hörer als Mitschöpfer in den Kompositionsprozeß einbezieht.


Music for ... (1984-87)
Fassung für Saxophon, Klavier und Schlagzeug

Dieses Stück wurde 1984 als work-in-progress in Angriff genommen, als Cage für jedes Orchesterinstrument individuelle Solostimmen zu komponieren begann, die in beliebiger Zusammenstellung miteinander gespielt werden können. Die Anzahl der beteiligten Instrumente gibt der jeweiligen Version ihren Titel; die heute zu hörende Kombination von Saxophon, Klavier und Schlagzeug heißt demnach Music for 3.

Von diesem Stück existiert keine Partitur, mit deren Hilfe die Koordination der Einzelstimme kontrolliert werden könnte. Zudem ist ihre zeitliche Strukturierung variabel - die von Cage erfundene Methode der "time brackets" gibt einen flexiblen Zeitrahmen vor, innerhalb dessen die einzelnen Abschnitte zu spielen sind.

Diese Umstände führen schließlich zu völlig unvorgesehenen Situationen im Zusammenspiel: Die Musiker gestalten ihre Stimmen unabhängig von einander, ohne zu wissen, was das andere Instrument spielt. Trotzdem sind die Einzelstimmen exakt ausnotiert. Sie bestehen aus dem fortwährendem Wechsel zweier kontrastierender Strukturtypen: Die sog. "pieces" beinhalten allein langgezogene Töne mit anschließender Pause, die innerhalb einer bestimmten Zeitspanne beliebig oft wiederholt werden können. In Kontrast dazu stehen die "interludes": virtuose, speziell für jedes Instrument zugeschnittene Texturen von hoher Dichte und Expressivität.

Cage selbst hat für jedes Orchesterinstrument umfangreiche Materialtabellen angelegt und darin charakteristische Spielweisen und instrumentenspezifische Besonderheiten festgehalten Mit Hilfe eines von Cage's Assistenten Andrew Culver entwickelten Computerprogramms wurden die vorgegebenen Materialien mittels Zufallsoperationen miteinander kombiniert, die das Endresultat unbestimmt und ungerichtet erscheinen lassen. Damit soll - so Cage - verhindert werden, daß die Klänge als Träger von Botschaften mißbraucht werden können: sie sollen als unantastbare Individuen den Raum erfüllen, wie ein Stück Natur.

Trotzdem entstehen im Zusammenspielen der voneinander isolierten Einzelstimmen ständig neue Zusammenhänge, ja oft hochdramatischen Entwicklungen, die vom Komponisten nicht von vornherein festgelegt worden sind. Hier ist es das Material selbst, das ungeachtet seiner bewußten Loslösung von jeglicher Musiktradition zu sprechen beginnt, und der Hörer, der im aktiven Akt des Hörens zum Mitschöpfer wird, indem er aus den unzähligen parallelen Abläufen sich seinen Ariadne-Faden durch das Labyrinth spannt.

Dr. Karlheinz Essl jun.



Ausführende


trio accanto

Das TRIO ACCANTO begann seine Arbeit 1992 und besteht aus der ungewöhnlichen Besetzung Saxophon, Klavier und Schlagzeug. Es ist das erste Ensemble dieser Art. Seine Mitglieder, die sich hauptsächlich der Musik der Gegenwart widmen und als Solisten bei allen bedeutenden Festivals in Europa auftreten, wollen mit diesem Ensemble neue Kammermusik für diese Besetzung anregen.

Das erste Konzert fand 1994 im Rahmen eines ARS-NOVA-Konzertes des Südwestfunks Baden-Baden (mit Werken von Erhard Großkopf, Toshio Hosokawa und Thomas Müller) statt. Darauf folgten zwei Uraufführungen von Dror Feiler und Manfred Stahnke bei den Donaueschinger Musiktagen 1994, sowie weitere Uraufführungen von Eva Barath, Ramón González-Arroyo und Gerhard Winkler am Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe.

Für die nächsten Jahre ist die Zusammenarbeit mit den Komponisten Peter Ablinger, Manuel Hidalgo, Thomas Kessler, Philippe Manoury, Philippe Racine und Mauricio Sotelo geplant.



Yukiko Sugarawa - Klavier
Geboren in Sapporo. Klavierstudium bei Aiko Iguchi in Tokio, bei Hans-Erich Riebsam in Berlin und bei Aloys Kontarsky in Köln (Konzertexamen). Preisträgerin des "Kranichsteiner Musikpreises" der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik (Darmstadt). Wirkte bei zahlreichen Ur- und Erstaufführungen mit und gewann mehrere internationale Preise.

Christian Dierstein - Schlagzeug
Spielt als Schlagzeuger im "ensemble recherche" und in anderen Ensembles für Neue Musik. Er begann sein Studium bei Bernhard Wulf in Freiburg, studierte zwischenzeitlich Jazz in Paris und nahm dort Unterricht bei Jean-Pierre Drouet und Gaston Sylvestre. 1993 Abschluß des Studiums in Freiburg. Er erhielt mehrere Stipendien und Preise.

Marcus Weiss - Saxophon(e)
Geboren in Basel. Solistenexamen bei Iwan Roth in Basel und Master of Music an der Northwestern University in Chicago bei Frederik L. Hemke. Er erhielt den Solistenpreis des Schweizerischen Tonkünstlervereins und ist seit 1992 Dozent an der Musikhochschule Zürich. Marcus Weiss führt eine intensive Konzerttätigkeit als Solist und als Gast verschiedener Ensembles für Neue Musik (Klangforum, ensemble recherche etc.) durch und ist Mitglied des Pariser Saxophon-Ensembles XASAX.
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