O rosa bella

Clemencic Consort

O rosa bella

Clemencic Consort
Sa, 13.05.1995, 11:45 Uhr

Das Schömer-Haus

Am heutigen Abend möchte ich Sie zu einer Reise in den "Herbst des Mittelalters" (Johan Huizinga) einladen - eine Epoche zwischen Mittelalter und Neuzeit, die durch starke gesellschaftliche und politische Umbrüche gekennzeichnet war.
Introductio

Am heutigen Abend möchte ich Sie zu einer Reise in den "Herbst des Mittelalters" (Johan Huizinga) einladen - eine Epoche zwischen Mittelalter und Neuzeit, die durch starke gesellschaftliche und politische Umbrüche gekennzeichnet war. In ihr zeigen sich erstaunliche Parallelen zu unserer heutigen Zeit, wie es Umberto Eco in seinem Essay "Auf dem Weg zu einem Neuen Mittelalter" scharfsinnig analysiert hat: der Verfall der großen Systeme, ein sich neu herausbildender Pluralismus, der Diskurs zwischen Scholastik und Strukturalismus; kurz: eine neue Unübersichtlichkeit - gefährlich vielleicht, aber auch voller Chancen.

Als roter Faden durch unsere Zeitreise dient die Vertonung des Liebesliedes O rosa bella durch John Dunstable. Diese Mitte des 15. Jahrhunderts entstandene Komposition geriet zu einem regelrechten Schlager, der sich in unzähligen Handschriften über ganz Europa verbreitete. Dem damaligen Brauch folgend wurde dieser Vokalsatz von anderen Komponisten als "Materialsteinbruch" benutzt, um daraus neue Stücke zu konstruieren. So entstand eine Fülle von Bearbeitungen: ganze Meßzyklen, virtuose Orgelstücke, Quodlibets, Variationen und Neuarrangments.

Dieser Umgang mit vorgefertigtem Material zeigt interessante Parallelen zu heutigem postmodernen Denken, aber auch zu dessen (vorgeblicher) Anti-These, der Moderne. Anton Weberns Schritt in die Abstraktion wäre ohne die Errungenschaften der "Alten Niederländer" (auf die er sich ausdrücklich berief) undenkbar gewesen. Und die von Arnold Schönberg 1923 formulierte Methode der "Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen" zeigt deutliche Parallelen zur cantus firmus-Technik des 15. Jahrhunderts. Sie verdankt sich möglicherweise auch Weberns musikwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dieser damals noch völlig unbekannten Musik.

So lade ich Sie nun ein, dieses Klanglabyrinth zu betreten, das von den exzellenten Musikern des weltberühmten Clemencic Consort gestaltet wird. Das SCHÖMER-HAUS- ein Ort der Neuen Kunst - verwandelt sich heute dank seiner bemerkenswerten Akustik in eine gotische Kathedrale.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES


Leonardo Giustiniani
(1388-1446)

O rosa bella

O rosa bella, o dolze anima mia,
Non mi lassar morire in cortesia.
Ay lasso me dolente; dezo finire
Per ben servire e lealmente amare?
Soccorimi ormay del mio languire
Cor del mio non mi lassar penare.
Oi dio d'amor che pena è questa amare,
Vide ch'io mor' tut'hora per quest'iudea.
O rosa bella, o dolze anima mia,
Non mi lassar morire in cortesia.

* * *

O schöne Rose, o süße Seele mein,
Laß mich nicht sterben vor lauter Höflichkeit.
Ach, ich bin vor Schmerz erschöpft; muß ich sterben,
um Dir gut zu dienen und Dich aufrichtig zu lieben?
Hilf mir jetzt aus meiner Ermattung,
Herz von meinem Herzen, laß mich nicht leiden.
Weh, Gott der Liebe, welche Qual ist dieses Lieben,
Sieh, daß ich bei dem Gedanken daran noch immer sterbe.
O schöne Rose, o süße Seele mein,
Laß mich nicht sterben vor lauter Höflichkeit.


Karlheinz Essl

Enzyklopædia super O rosa bella

Anstelle eines durchgehenden Programmheft-Textes möchte ich Ihnen heute ein kleines Lexikon in die Hand geben, das Ihnen bei Ihren labyrinthischen Streifzügen durch Zeit, Raum und Klang als Orientierungshilfe, Brevier und Vademecum dienen möge.


Dunstable, John (um 1380 - 1453); auch Dunstaple, Dunstapell, Dumstable.

Englischer Komponist Mathematiker und Astronom. Über seine Person ist wenig bekannt. Möglicherweise lebte er im Gefolge des Herzog von Bedford längere Zeit in Frankreich. Als Komponist wurde er von seinen Zeitgenossen außerordentlich geschätzt und hatte starken Einfluß auf die erste Generation der sog. "Alten Niederländer" um Dufay. Die ihm entgegengebrachte Wertschätzung verklärte ihn zu einer mystischen Figur; manchen Spätgeborenen galt er (fälschlicherweise) sogar als der eigentliche "Erfinder des Kontrapunkts". Sein Ruhm war bereits zu Lebzeiten so hoch, daß ihm Werke zugeschrieben wurden, die er höchstwahrscheinlich nie geschrieben hatte. Der Name "Dunstable" fungierte offenbar als Markenzeichen für "Neue Musik made in England" mit ihrer klangsinnliche Satztechnik, dabei aber dennoch reich an konstruktiven und symbolischen Bezügen. - Dunstable's Autorenschaft an O rosa bella ist höchst umstritten; als dessen Urheber wird neuerdings auch John Bedingham vermutet.

Bedingham, Johannes (gest. ca. 1460 London); auch Bedyngham, Bodigham, Bellingan, Benigun.

Bearbeiter, möglicherweise aber auch der wahre Autor von Dunstables O rosa bella. Fügte der originalen dreistimmigen Komposition noch drei weitere Stimmen hinzu, wodurch - als kontrapunktische Meisterleistung - eine reale Sechsstimmigkeit entstand, die die kompositorischen Möglichkeiten des Zeitstils weit übertraf.

Ciconia, Johannes (um 1370 Liége - 1411 Padova)

Wallonischer Komponist und Musiktheoretiker. Neueren Erkenntnissen zufolge handelt es sich bei dem historischen Ciconia um zwei Personen: Vater und Sohn, wodurch das ursprünglich mit 1335 angesetzte Geburtsjahr sich um rund 35 Jahre verschob. Im Gefolge des Kardinals Gilles d'Albornoz brachte er längere Zeit in Italien zu und lernte dort die italienische Ars Nova kennen, die er mit dem französischen Stil zu einer orginellen Synthese verschmolz. Vertonte vermutlich als erster Giustinianis Ballata O rosa bella.

Ockeghem, Johannes (Anf. 15. Jhdt - 1496 Tours); auch: Okeghem, Ockenheim

Kapellsänger und Kapellmeister am französischen Königshof. Galt lange Zeit als die Inkarnation der niederländischen Künste mit ihren komplexen Kanontechniken und zahlensymbolischen Konstruktionsmethoden. Im 19. Jahrhundert als manieristisch abgekanzelt, erfuhr er Mitte dieses Jahrhunderts ein Neubewertung durch die Forschungsarbeit des Komponisten Ernst Krenek.

Giustiniani, Leonardo (1381/88 Venezia - 1446 Venezia)

Venezianischer Dichter, Humanist und Staatsbeamter. Bekannt durch seine volkstümlichen, von ihm selbst vertonten Liebeslieder in venezianischer Mundart, die nach dem Namen ihres Verfassers Giustiniane genannt werden. Dichtete die Ballata "O rosa bella".


O rosa bella

Eine Ballata des venezianischen Dichters Leonardo Giustiniani. Erstmals vertont von Johannes Ciconia, wird sie aber erst in der Bearbeitung von Dunstable (bzw. Bedingham) zu einem regelrechten "Schlager", der unzählige Mal parodiert wird und in den vielfältigsten Erscheinungen als Messe, Intabulierung, Quodlibet etc. weiterlebt.

Fassungen:

• dreistimmige Ballata (Dunstable oder Bedingham) - das "Original",
• mit zusätzlicher dreistimmiger Concordantia (Bedingham) - erweitert den ursprünglichen dreistimmigen Satz zur realen Sechsstimmigkeit.
• mit zusätzlichem Contratenor secundus (anonym) - Erweiterung zur Vierstimmigkeit,
• mit zwei Gymel-Stimmen (anonym) - bilden jeweils zweistimmige Sätze (Bicinien) mit dem originalen Cantus.

Neukompositionen auf der Basis von O rosa bella:

• Messen - 2 dreistimmige, 1 vierstimmige (Trienter Codices)
• Quodlibets (Glogauer Liederbuch)
• drei- bis vierstimmige Tonsätze (anonym, bzw. Hert und Ockeghem)

Instrumentalbearbeitungen:

• 2 Orgelfassungen (Buxheimer Orgelbuch)


Trienter Codices (Mitte 15. Jhdt.)

Sieben umfangreiche Musikhandschriften aus dem Besitz des Domkapitels von Trient. Bilden die wichtigste Quelle des musikalischen Repertoires seiner Zeit. Ihre Entdeckung Ende des vorigen Jahrhunderts schuf erst die Voraussetzung zur Erforschung und Neuedition der ersten beiden franko-flämischen Epochen. Die sog. Trienter Codices (TR) wurden vom kais. kgl. Ministerium für Kultus und Unterricht erworben und dem musikwiss. Institut der Universität Wien zur Neuausgabe überlassen. Anton Webern, damals noch Student von Guido Adler, bearbeitet im Zuge seiner Dissertation daraus den 2. Band von Heinrich Isaacs "Choralis Constantinus". Seine fundierte Auseinandersetzung mit den Satzkünsten der "Alten Niederländern" schlugen sich 20 Jahre später in der von Webern mitentwickelten Zwölftontechnik nieder. - Die politische Bedeutung der Trienter Codices zeigt sich darin, daß im Friedensvertrag von St. Germain ihre Rückgabe an Italien verankert wurde.

Glogauer Liederbuch (um 1480)

Eine der umfangreichsten spätmittelalterlichen deutschen Musikquellen, eine Gebrauchssammlung für das gesellige Musizieren. Gibt Zeugnis von einem hochentwickelten bürgerlichen Musikleben: eine buntgemischte Sammlung aus niederländischen Chansons, meist dreistimmige Bearbeitungen geistlicher Lieder und Quodlibets.

Buxheimer Orgelbuch (um 1460/70)

Umfangreichste Sammlung von Orgelstücken aus dem 15. Jhdt., möglicherweise in der Schweiz entstanden. Beinhaltet Intabulierungen weltlicher Liedsätze, u.a. von Dunstable (zwei Intabulierungen von O rosa bella), Bedingham, Dufay und Ciconia sowie anonyme geistliche Gebrauchskompositionen.

Parodie [griech. parodia, "Neben- bzw. Gegengesang"]

Umformung eines bestehenden Tonsatzes zu einem neuen Werk. Zentrale Kompositionstechnik des 15. Jahrhunderts: die meisten Meßkompositionen dieser Zeit basieren auf bereits existierende weltliche oder geistliche Vokalmusik; in den Trienter Codices etwa sind drei anonyme Messen super O rosa bella überliefert. Hier wird Cantus bzw. Tenor des Originals als struktureller Faden beibehalten und mit völlig neu dazu erfundenen Stimmen versehen.

Intabulierung; auch: Intavolierung [vom ital. intavolare]

Die Übertragung (auch: "Absetzung") einer mensural notierten (Vokal-) Komposition in eine instrumentale Griffschrift, die Tabulatur. In der Regel nahm diese Übertragungstechnik die spieltechnischen Möglichkeiten der jeweiligen Instrumente - meist Orgel oder Laute - in Betracht und fügte instrumentenspezifische Verzierungen und Ornamente hinzu. Eine frühe Quelle von Orgeltabulaturen stellt das Buxheimer Orgelbuch dar.


Quodlibet [lat. "was beliebt"]

Kompositorische, manchmal auch improvisatorische Kombination von vollständigen oder fragmentarischen Melodien, die ursprünglich nichts miteinander zu tun haben. So sind im Glogauer Liederbuch drei Quodlibets über "O rosa bella" überliefert, wobei der originale Cantus beibehalten und im Tenor mit Anfängen verschiedener deutscher Volkslieder kontrapunktiert wird.

Im ersten Quodlibet werden nicht weniger als 22 Liebeslieder zitiert:

1. In feuers hitz so brennet mein herz. - 2. Mein libste zart. - 3. Es leit mir hart. - 4. Hilf und gib rat. - 5. Sei wohlgemut. - 6. Seh in mein herz. - 7. Mein traut gesell. - 8. Der mei ist hin. - 9. Wunschlichin schone. - 10. Sig, sold und heil, im herzen geil. - 11. Ich sachs eins mals. - 12. Mein einziges heil. - 13. Gesein dich got. - 14. So so mein libste zart. - 15. Ich wußte nie, was rechte libe was. - 16. Mein ist vergessen. - 17. O senens kraft. - 18. Früntlicher ort, was zeistu mich. - 19. Hab ich lib so leid ich not. - 20. Tu auf, tu auf, mein allerlibste lib. - 21. Zu aller zeit. - 22. Ich far dahin und das muß sein.


Gymel [engl.], auch Gimel [von lat. cantus gemellus "Zwillingsgesang"]

In Handschriften des späten 15. und 16. Jahrhunderts Bezeichnung für ein solistisches Duo. Beide Stimmen befinden sich in der gleichen Lage und überkreuzen sich häufig, wobei sie meistens in imperfekten Konsonanzen (Terzen & Sexten) zusammenklingen. Der Gymel gilt als spezifisch englisch und weist in seiner von Terzen und Sexten bestimmten Harmonik gewisse Entsprechungen zu einer "faburden" genannten mehrstimmigen Improvisationspraxis auf. - In den Trienter Codices finden sich zwei Gymel-Stimmen anonymer Herkunft, die mit dem Cantus von O rosa bella kombiniert werden können.

Ballata [ital.]

Zentrale literarische-musikalische Form des Trecento und Quatrocento. Ihre Ausführung bestand im Wechsel einer vom Vorsänger gesungenen Strophe (stanza) und eines vom Chor regelmäßig wiederholten Schlußabschnittes (ripresa).

Meßkomposition [lat. missa]

Die Vertonung des Ordinarium Missae, also der fünf feststehenden Texte der Messe: Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei. Erst das 14. Jhdt. bringt Bearbeitungen des gesamten Ordinariums (etwa Machauts Missa Notre Dame). In den Messen des 15. Jhdts. werden die verschiedenen Meßsätze meist durch einen gemeinsamen cantus firmus (der oft aus einer weltlichen Komposition stammt; Parodie), zyklisch verbunden - ein Verfahren, das gewisse Beziehungen zur Zwölftontechnik der Wiener Schule um Arnold Schönberg erkennen läßt.

© 1995 by Karlheinz Essl
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