Raum und Klang

Arnold Schoenberg Chor

Raum und Klang

Arnold Schoenberg Chor
Sa, 12.03.1994, 20:00 Uhr

Das Schömer-Haus

Die Einbeziehung des Raumes als Erweiterung der musikalischen Dimensionen, die im heutigen Schaffen vieler Komponisten eine zentrale Rolle einnimmt, hat ihre Wurzeln im antiphonalen Gegen-Gesang des Gregorianischen Chorals und fand ihre erste Blüte Mitte des 16. Jahrhunderts in Venedig.
Die Einbeziehung des Raumes als Erweiterung der musikalischen Dimensionen, die im heutigen Schaffen vieler Komponisten eine zentrale Rolle einnimmt, hat ihre Wurzeln im antiphonalen Gegen-Gesang des Gregorianischen Chorals und fand ihre erste Blüte Mitte des 16. Jahrhunderts in Venedig. Hier begünstigte die einmalige architektonische Gegebenheit der Markuskirche mit ihren beiden gegenüberliegenden Emporen die Heranbildung eines neuen Stils, der Mehrchörigkeit. Die getrennte Plazierung zweier Chöre - die sich in Rede und Gegenrede gegenüberstehen - erlaubte die kompositorische Erschließung der räumlichen Tiefendimension. Der Niederländer Adrian Willaert begründete dieses Kompositionsverfahren, ihre Blüte erreichte die Mehrchörigkeit bei Andrea und Giovanni Gabrieli. Heinrich Schütz, der bei letzterem in Venedig studiert hatte, brachte diese Technik nun nach Deutschland und verstand es, sie mit den expressiven Errungenschaften der musikalischen Rhetorik zu verbinden.

Die Architektur des SCHÖMER-HAUSES mit seinen umlaufenden offenen Galerien erlaubt es, mehrchörige Werke von Heinrich Schütz in authentischer Weise wiederzugeben. Konfrontiert wird diese Musik mit Kompositionen aus unserer Zeit, die sich auf jeweils ganz spezifische Weise mit dem Begriff des Raumes in seinen vielfältigen Bedeutungen auseinandersetzen. Die Auslotung eines engen Tonraums ist Thema der Tre canti sacri von Giacinto Scelsi. Dem gegenüber sprengt Cerhas Verzeichnis den traditionellen Klangraum des Chores durch exaltierte nicht-vokale Aktionen. Nonos Liebeslied wiederum schwebt in einem äußerst subtil ausziselierten harmonischen Raum und Haubenstock-Ramatis Madrigal läßt durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen die Zeit zum Raum werden.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES


Heinrich Schütz (1585 - 1672) wurde im Alter von 13 Jahren wegen seiner schönen Sopranstimme vom hessischen Landgrafen Moritz dem Gelehrten "entdeckt" und erhielt eine hervorragende humanistische und musikalische Ausbildung als Kapellknabe am Collegium Mauritianum in Kassel. Nach seinem Stimmbruch absolvierte er ein Jurastudium. Im Anschluß daran ermöglichte es ihm ein Stipendium des Landgrafen, bei Giovanni Gabrieli in Venedig die neuesten Errungenschaften der italienischen Musik zu studieren. Dort lernte er die am Markusdom entstandene Technik der "cori spezzati" kennen. 1611 schrieb er sein Gesellenstück, Il primo libro de Madrigali, das ihn als Komponisten auf der Höhe seiner Zeit auswies.

Nach seiner Rückkehr aus Venedig wurde Schütz schließlich Kapellmeister des Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen in Dresden. Dort entstand sein Opus 2, die berühmten Psalmen Davids, in denen er die venezianische Mehrchörigkeit in den Dienst lutherischen Kirchenmusik stellte. 1628 reiste er - mittlerweile der berühmteste Komponist Deutschlands - nochmals nach Venedig, um die neue Kunst Monteverdis und die sich neu herausgebildete Gattung der Oper zu studieren. Dem Elend des Dreißigjährigen Krieges entzog er sich, so gut er konnte, durch stete Wanderschaft, die ihn an die verschiedensten deutschen Höfe brachte.


Giacinto Scelsi (1905 - 1988) zählt zu den geheimnisvollsten Musikerpersönlichkeiten unseres Jahrhunderts. Seine Biographie läßt sich nur in Ansätzen skizzieren, da Scelsi als kompositorisches Subjekt völlig hinter seinem Werk zurücktreten wollte und deshalb viele seiner Lebensumstände zu verschleiern suchte.

Scelsi wurde als Sohn einer wohlhabenden Adelsfamilie in La Spezia geboren und erhielt eine umfangreiche musikalische Ausbildung, zunächst in Rom, später auch in Wien, wo er Mitte der 30er Jahre die Zwölftontechnik der Wiener Schule studierte. In den Jahren darauf geriet Scelsi in eine gesundheitliche und persönliche Krise, aus der er sich schließlich durch Beschäftigung mit fernöstlichen Gedankengut befreien konnte. Er selbst berichtete, daß er tagelang vor dem Klavier gesessen habe, um immer ein und den selben Ton anzuschlagen und seinem Verklingen zu lauschen.

1951 kehrte er nach Rom zurück und lebte dort in völliger Zurückgezogenheit nahe dem Forum Romanum, der Demarkationslinie zwischen Osten und Westen, wie er es selbst formulierte. Sein Interesse an außereuropäischen Musikkonzepten führten ihn zu einer höchst eigentümlichen Kompositionsmethode: in Trance improvisierte er stundenlang am Klavier oder auf einer sog. Ondioline (einem frühen elektronischen Musikinstrument, auf dem feinste mikrotonale Modulationen erzielt werden können). Diese Sitzungen nahm er auf Tonband auf, ließ sie später von bezahlten Spezialisten transkribieren und nach eigenen Angaben instrumentieren. Erst in den 80er Jahren entwickelte sich - von Deutschland ausgehend - zunehmendes Interesse an seiner Musik. Er verstarb, in seiner Heimat zeitlebens unbeachtet, 1988 in Rom.

In den 1958 entstandenen Tre canti sacri zeigt sich Scelsis meditative Versenkung in den Kosmos eines einzigen Tones. Neu ist seine dem westlichen Musikdenken diametral entgegengesetzte Auffassung vom Tonsatz. Hier gibt es keine polyphonen Verschränkungen, keine thematischen Konflikte - das "Drama" findet im Inneren des Tones statt, was in einer zusätzlichen räumlichen Tiefendimension resultiert. Der alles zusammenfassende Klang in seinen unendlichen Façettenreichtum wird zum alleinigen Träger des Ausdrucks. Damit nimmt Scelsi eine Technik vorweg, die einige Jahre später - unabhängig von ihm - bei Cerha und Ligeti entwickelt wurde und als sogenannter Klangflächenstil die Musik der 60er Jahre geprägt hat.



Friedrich Cerha wurde 1926 in Wien geboren und studierte dort an der Musikakademie Komposition (bei Alfred Uhl), Violine und Musikerziehung. Daneben studierte an der Universität Wien Philosophie, Musikwissenschaft und Germanistik und promovierte 1949 zum Doktor phil.

Zunächst war er als Konzertgeiger und Musiklehrer tätig, eher er 1956/57 als Stipendiat in Rom lebte. Im Jahr darauf gründete er gemeinsam mit Kurt Schwertsik das Ensemble "die reihe" und unterrichtete an der Wiener Musikhochschule "Aufführungspraxis neuer Musik". Zwischen 1979 und 1988 wirkte er dort auch als Kompositionsprofessor. Neben seiner kompositorischen Tätigkeit arbeitet Cerha als Dirigent mit den wichtigsten in- und ausländischen Orchestern zusammen und tritt bei den bedeutendsten internationalen Festivals auf.

Cerhas Auseinandersetzung mit der klassischen Moderne, der Wiener Schule und seriellen Techniken führte ihn 1959 schließlich zur Entwicklung der Klangflächenkomposition, wo er sich bewußt vom traditionellen Formdenken abkehrte. Neben seiner Sensibilität für neue Klangqualitäten gilt sein primäres Interesse formalen Prozessen, die sich in ihrer Erscheinung an komplexen organischen Systemen orientieren. Dabei geht es ihm um die Verschmelzung heterogener musikalischer Materialien unter Einbeziehung prägnanter Rhythmik, klarer melodischer Linien und harmonischen Spannungsverläufen, wobei die erlebbare musikalische Gestaltung stets im Mittelpunkt steht. Das Bemerkenswerte an Cerhas Auseinandersetzung mit der Systemtheorie ist, daß diese lange vor dem allgemeinen Interesse an Chaostheorien stattgefunden hat, das seit den achtziger Jahren spürbar ist.

Über sein Verzeichnis (1970) für sechzehn Stimmen schreibt der Komponist:

"Neben der Ausarbeitung meiner Klangflächenkompositionen von 1959/61 hat es mich ab 1962 - zunächst in E"xercises", aus denen später mein Bühnenstück "Netzwerk" hervorgegangen ist - gereizt, aus der im Material puristischen Welt der "Fasce" und "Spiegel" auszubrechen. Im Gegensatz zur Collage, die Bruch und Verfremdung zu einem wesentlichen Erlebnisinhalt macht, war mein Interesse darauf gerichtet, Heterogenes, 'Störendes' zu erfinden und funktionell in einen Organismus einzubinden. Vielleicht zu wohl um weitere Möglichkeiten der Arbeit mit Massenstrukturen wissend, die mir auch als Dirigenten allenthalben begegnet sind, hat mich gleichzeitig eine immer größere Sehnsucht nach Transparenz und sensitiv kontrollierten Beziehungen zwischen klar formulierten Einzelelementen erfaßt. Nach dem indirekten Abbau einiger Tabus in der neuen Musik in "Exercises" oder "Catalogue des objets trouveés" habe ich Bezüge zu traditionsgebundenem Material, die angesichts bestimmter Gestaltungsintentionen zu verschleiern, aber nicht grundsätzlich zu umgehen sind, zunächst betont, wenngleich mit von Werk zu Werk bewußt wechselnden Problemstellungen, angesprochen. Das hat mein Bewußtsein dafür vertieft, was bestimmte Materialkonstellationen prinzipiell herzugeben imstande sind und auf eine durch keinen intellektuellen Exkurs zu ersetzend Weise zu einer Konzentration auf den mir wichtigen Begriff von Komposition im eigentlichen Sinn geführt. Diese Arbeiten haben keinen neuen Stil gebracht, aber wichtige Voraussetzungen für meine weiter Entwicklung geschaffen.

"Verzeichnis" war eine der ersten von ihnen. Ich habe mich darin auch wieder erstmalig über meine langjährigen Reservate gegenüber dem 'Vertonen' eines durchlaufenden Textes hinweggesetzt, wozu mir allerdings gerade dieser eine meine Situation erleichternde Möglichkeit bot. Ich fand ihn im österreichischen Almanach 'Protokolle 69'. Es handelt sich um ein rein reihendes Verzeichnis der in Würzburg während eines bestimmten Zeitraums wegen Hexerei hingerichteten Personen. Sein nicht reflektierender Charakter wirft die unverändert aktuelle Frage, wie lange Menschen einander verurteilen und morden wollen, mit besonderer Deutlichkeit auf. Musikalisch ist der Text so behandelt, daß er nur fragmentarisch voll verständlich wird. Trocken-deklamierendes Sprechen, Legato-Polyphonie in motettischer Technik, mechanisiert wirkende Staccato- Folgen, Sprechgesang, absinkende Glissandi auf einzelnen Worten und glissandierende Vokalisen sind die bewußt heterogenen Stilmittel in der Komposition. Die leiernde Wiederholung bestimmter Passagen entspricht dem Gleichmaß des referierten Grauens ebenso wie die Vielfalt der Mittel, aus dem es immer wieder hervorkommt, auf seine ungebrochene Allgegenwart hinweist."


Roman Haubenstock-Ramati wurde 1919 in Krakau geboren und studierte in dort Komposition, Musikwissenschaft und Violine. Zwischen 1947-50 war er musikalischer Leiter von Radio Krakau, ehe er nach Tel Aviv übersiedelte, um dort die zentrale Musikbibliothek aufzubauen. 1957 kehrte er nach Paris zurück und studierte dort bei Pierre Schaeffer musique concrète. 1959 organisierte er in Donaueschingen die erste Ausstellung musikalischer Graphik. Seitdem lebt er vor allem in Wien, wo er lange Zeit musikalischer Berater der Universal Edition und seit 1973 Kompositionsprofessor an der Wiener Musikhochschule war. In der Nacht zum 3. März 1994 ist Roman Haubenstock-Ramati nach langer und schwerer Krankheit in Wien gestorben.

Haubenstock-Ramati hat sich nicht nur als Komponist, sondern auch als Maler und Graphiker Bedeutendes geleistet. In beiden Bereichen war sein Anliegen das Gleiche: eine von aller platten Eindeutigkeit befreite subtile Kunst zu schaffen, deren Kosmos von verschiedenen Seiten beleuchtet immer neue Zusammenhänge offenbart.. Neben seiner Beschäftigung mit graphischer Notation und mobilen musikalischen Formen (die er - in Anlehnung an Calder - "Mobiles" nannte), hat Haubenstock-Ramati unaufhörlich an der Verfeinerung des Klanges gearbeitet, dessen Sinnlichkeit und Räumlichkeit in seiner letzten Komposition Equilibre (1993 für das SCHÖMER-HAUS geschrieben) bereits in transzendente Welten eintauchte.

Über sein Madrigal (1970) für vierstimmigen gemischten Chor schreibt der Komponist:

"Das Stück, auf Anregung Heinrich Strobels für das 'Vokalensemble Kassel' komponiert, entstand in Berlin, wo ich 1970 Gast des 'Deutschen Akademischen Austauschdienstes' war. Das Werk ist der Stadt Berlin gewidmet. Eine quodlibetartige Textcollage - eine Folge von augenblicklichen Gedanken, Erinnerungen, zufällig gehörten Gesprächsfetzen und Momentaufnahmen des Alltags - wurde hier als Vehikel für einen sechzehnstimmigen Chorsatz benutzt.

Der Bereich des Gesprochenen, des Geräuschhaften dominiert; die Führung der menschlichen Stimme ist nach orchestralen Gesichtspunkten behandelt. Mobileartige Strukturen; kanonähnliche Lesarten des gleichen Textes in verschiedene Richtungen; vor- und rückwärts, hinauf und hinab; Klangflächenbildungen; Klangmixturen und Formationen aus Gesprochenem und Gesungenem - sie ergeben den formalen Ablauf dieses kurzen, sehr komplexen Kammerchorwerkes. Es endet in einer Art Coda auf den Text 'donna nobis pacem', mit einem Gedanke, den man nicht unausgesprochen lassen konnte, wenn man damals durch die Straßen Berlins ging".


Luigi Nono (1924 - 1990) absolvierte zunächst ein Jurastudium und betrieb gleichzeitig musikalische Studien bei Francesco Malipiero, Hermann Scherchen und Bruno Maderna. Neben Boulez und Stockhausen galt er zunächst als einer der bedeutendsten Protagonisten der "Darmstädter Schule". Doch Ende der 50er Jahre distanzierte er sich von deren naturwissenschaftlich orientierten Ästhetik, ebenso wie von Cage's Konzept der Aleatorik - beides bedeutete ihm die Flucht vor der Geschichte und der Verzicht auf eine künstlerische Stellungnahme zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation. Gemeinsam mit Claudio Abbado und Maurizio Pollini beteiligte er sich an dem pädagogisch-politischen Projekt Musica/ Realtà. Sein Engagement auf Seiten der italienischen KP gewann für ihn eine immer größere Bedeutung, trieb ihn aber schließlich immer mehr in die Isolation.

Nach der Uraufführung seines Streichquartetts Fragmente - Stille. An Diotima (1980) erwachte jedoch ein neues Interesse an Nonos Musik. Die räum-liche Entfaltung des Klanges - meist unter Verwendung von Live-Elektronik - zielt darauf, die Wahrnehmung für das verborgene utopische Potential des Klanges zu sensibilisieren.

Luigi Nonos Liebeslied ist das ganz persönliche Zeugnis seiner Begegnung mit Schönbergs Tochter Nuria, die er 1954 kennengelernt hatte und ein Jahr später heiratete. Noch im gleichen Jahr schrieb er den Text in deutscher Sprache und seine Vertonung nieder.

Erde bist Du
Feuer Himmel
ich liebe Dich
mit Dir ist Ruhe
Freude bist Du
Sturm
mit mir bist Du
Du bist Leben
Liebe bist Du

Bis auf wenige Stellen ist der Chorsatz auf eine einzige weitgespannte melodische Linie reduziert, die einstimmig und in verschiedenen Farbschattierungen vorgetragen wird. Ein kleines Instrumentalensemble aus Harfe, Pauken, Vibraphon und Becken dient hier weder zur Begleitung noch Stütze, sondern bettet mit seinen sparsamen Klangtupfen den Chor in eine - wie es Josef Häusler formulierte - "auratische Hüllkurve des Ausdrucks".

© 1994 by Karlheinz Essl
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