Die britische Foto- und Videokünstlerin Sam Taylor-Johnson (vor 2012: Sam Taylor-Wood), die 1998 für den begehrten Turner-Prize
nominiert wurde, ist durch das verstärkte Interesse an den „Young British Artists“ Mitte der 1990er Jahre in das Blickfeld
der Öffentlichkeit gerückt. Mit den so genannten YBA’s verbindet sie ein Studium am Londoner Goldsmiths’ College, die Teilnahme
an maßgebenden Ausstellungen wie „Sensation“ oder der 47. Biennale in Venedig sowie ein gemeinsamer Mäzen: der Londoner Kunsthändler
und Sammler Charles Saatchi.
Ursprünglich von der konzeptuellen Bildhauerei kommend, wechselt Sam Taylor-Johnson anfang der 1990er Jahre zu den Medien
Fotografie und Film. Während sie zu Beginn noch mit provokanten fotografischen Selbstportraits auf sich aufmerksam macht,
konzentriert sie sich in den darauf folgenden Jahren auf großformatige Panoramafotografien und Videoinstallationen.
In der Panorama-Fotoserie „Five Revolutionary Seconds“ (1995-98) arbeitet Sam Taylor-Johnson mit einer historischen Kamera
der Royal Air Force, die ursprünglich für Luftaufnahmen entwickelt wurde. Mit dieser Panoramakamera, die sich in fünf Sekunden
einmal um die eigene Achse dreht, lässt Sam Taylor-Johnson ein 360°-Panoramabild von einer tendenziell dekadenten Gesellschaftsschicht
in luxuriösen Lofts entstehen. Da nicht alle Figuren auf einen Blick erfasst werden können, muss sich der Betrachter eine
Art filmische Betrachtungsweise aneignen.
„Der Betrachter schafft im Geiste einen neuen Schritt, indem er sich umdreht und eine Person betrachtet und anschließend eine
Verbindung zu einer anderen Person darstellt.“1
Neben Panoramafotografien und Videoinstallationen entstehen außerdem Einzelbilder, für welche sich Sam Taylor-Johnson aus
dem Fundus der Kunstgeschichte bedient: indem sie Gemälde von Caravaggio bis Cézanne zitiert, ihre Fotografien wie Altarbilder
aus der Frührenaissance anlegt oder sich Anregungen von japanischen Shunga- oder Frühlingsbildern des 19. Jahrhunderts holt.
Die von der Sammlung Essl angekaufte Fotoserie „Bram Stoker’s Chair“ (2005), zeigt Sam Taylor-Wood bei einem schwebenden Tanz
auf der Lehne eines Sessels, der, wie die Künstlerin selbst, den Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen scheint. Der eingefrorene
Moment erzeugt Spannung und verrät weder Ursache noch Ausgang dieses physikalisch schier unmöglichen Kunststückes. Was dem
Betrachter verborgen bleibt, ist, dass sich Taylor-Wood für diese Fotoserie von einem Bondagekünstler fesseln lässt und stundenlang
von der Decke hängt.
Mittels digitaler Bildbearbeitung entfernt sie nicht nur die Fesseln, sondern auch alle Spuren des Schmerzes und der Einschränkungen.
Was zurück bleibt, ist das Bild einer Frau, der keinerlei Grenzen gesetzt sind. Beachtet man den Titel der Arbeit, so offenbart
sich außerdem, dass hier statt einem physischen vielmehr ein psychologischer Balanceakt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung
thematisiert wird. Ähnlich wie sich in Bram Stoker’s Dracula das brave viktorianische Mädchen Lucy durch Draculas Biss unverhofft
in einen verführerischen Vamp verwandelt, befindet sich auch die Künstlerin in einem fragilen Moment der Leichtigkeit, der
jederzeit zu kollabieren droht und die schmale Gratwanderung zwischen Freiheit und Unterwerfung beleuchtet.