Wien modern 99

Ensemble Surplus (Freiburg)

Wien modern 99

Ensemble Surplus (Freiburg)
Sa, 27.11.1999, 20:00 Uhr

Das Schömer-Haus

Das Zeitalter der Postmoderne, soll - Lyotard zufolge - von der "Krise der Großen Erzählungen" gekennzeichnet sein, wo überlieferte Mythen ihre Bedeutung und Funktion eingebüßt haben.
Das Zeitalter der Postmoderne, soll - Lyotard zufolge - von der "Krise der Großen Erzählungen" gekennzeichnet sein, wo überlieferte Mythen ihre Bedeutung und Funktion eingebüßt haben. Als Gegenbewegung zu diesem proklamierten Verlust ist - nicht erst in Hermann Nitschs "ORGIEN.MYSTERIEN. THEATER" - die Tendenz zu beobachten, sich vermehrt mit Mythischem und Rituellem zu beschäftigen. Dabei geht es weniger um die Restaurierung pre-modernen Denkens als vielmehr um die Hinterfragung sinnentleerten Floskelkrams, um daraus zu neuen künstlerischen Lösungen zu gelangen, wie dies Wolfram Schurig in seiner Battaglia (die - als Kompositionsauftrag des SCHÖMER-HAUSES - heute ihre Uraufführung erlebt) thematisiert. Auch Iannis Xenakis schöpft in seinen prozessorientierten, auf mathematisch-stochastischen Methoden basierenden Kompositionen vielfach aus den Mythen und Ritualen der "Alten Griechen" und gelangt so zu einer eigenständigen, packenden Musiksprache.

Das Konzertleben selbst ist durch spezifische Rituale geprägt. In Zukunft wird es in Klosterneuburg eine Erweiterung erfahren: Neben der seit über 10 Jahren stattfindenden MUSIK IM SCHÖMER-HAUS mit seiner Konzentration auf avancierte Neue und Alte Musik gibt es ab morgen eine neue Veranstaltungsreihe im neueröffneten Ausstellungshaus der SAMMLUNG ESSL: unter dem Titel REACT_CHAIN_ finden dort monatlich Konzerte und Performances mit experimentellen, elektronischen und grenzüberschreitenden Musikformen statt, die keinem festgefügten Konzertritual gehorchen, sondern sich vielmehr sich auf die neuen Raumsituationen und ihre noch unerprobten Möglichkeiten einlassen. Mehr dazu finden Sie auf der letzten Seite diese Programmheftes.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES



Programm


Wolfgang Suppan (* 1966)

Secure the Shadow... (1999)
für Trompete, Tenorsaxophon, Schlagzeug, Violoncello und Kontrabass


Dieter Mack (* 1954)

Bulan (1997/98)
für Englischhorn und Bassklarinette


Iannis Xenakis (* 1922)

Dmaathen (1976)
für Oboe und Schlagzeug


Günter Steinke (* 1956)

Nachklang (1990)
für Baritonsaxophon, Schlagzeug und Kontrabass


Wolfram Schurig (* 1967)

Battaglia (1999)
für Posaune und Ensemble - Urauführung
Kompositionsauftrag des SCHÖMER-HAUSES



Ausführende

Ensemble SurPlus
Dirigent: James Avery
Posaune: Mike Svoboda



Werke & Komponisten

Wolfgang Suppan
Secure the Shadow...
für Trompete, Tenorsaxophon, Schlagzeug, Violoncello und Kontrabass (1999)
UA: Bludenz, 20. November 1999: Ensemble SurPlus, Dir: James Avery

Secure the Shadow, Ere the Substance Fade,
Let Nature imitate what Nature made.


In Amerika versuchten die Pioniere der Photographie - bereits vor über 150 Jahren - mit dem hier vorangestellten Werbeslogan Kunden zu gewinnen: "Sichere den Schatten, ehe sein Wesen schwindet, / Laß' die Natur nachbilden, was die Natur erschaffen hat." Nachdem dieses Gewerbe gerade neu entstanden war, mußten sich die Photographen ihren Kundenstock noch erschließen. Besonders verbreitet war es, eben Verstorbene, egal ob alt oder jung, abzulichten. Als Andenken an einen geliebten Menschen wollte man diesen, solange er noch nicht ganz "entseelt" war, auf einer Photographie festhalten.

Den Geist dieser Zeit versucht Wolfgang Suppan in seiner Komposition Secure the shadow... einzufangen; sie trägt den Titel eines Buches, das sich der post-mortalen Photographie widmet. (Ruby, Jay: Secure the shadow ... Death and Photography in America. Cambridge/London 1995.) Als damals endlich Dinge, Menschen und sogar Stimmungen für die Nachwelt realitätsgetreu dokumentiert werden konnten, war man bedingungslos dem Glauben an die Technik verfallen. Sie sollte sich die Natur untertan machen. Mit Photos konnte man also Lebendiges in seinem momentanen Zustand festhalten.

Der chemische Vorgang der Fixierung von Licht auf das Photopapier findet in Suppans Musik seine musikalische Entsprechung: Beim Komponieren werden Klänge am Notenpapier fixiert. Er geht noch weiter und greift die Idee auf, "Schatten" von Ereignissen aufzufangen. So etwa gleich am Beginn seiner Komposition mit einem Paukenschlag, der von einem liegenden Streicherklang verlängert wird. Diese Klangflächen wirken aber nicht statisch, denn in ihrem Inneren bewegen sich unruhige Glissando-Läufe. Auch einzelne Töne des Glockenspiels werden von den Klängen eines mit einem Cellobogen gestrichenen Vibraphons verlängert. Das Glockenspiel setzte Suppan bewußt ein, um die Erinnerung an eine Spieluhr zu wecken, die wiederum eine Reminiszenz an die Zeit der Anfänge der Photographie ist.

Zwei rhythmische Modelle bilden die Basis der Komposition. Sie werden jeweils auf unterschiedliche Art in Musik gesetzt. Viel mehr als früher tritt für den Komponisten die Orientierung am Objekt in den Vordergrund: Das Objekt ersetzt nun das - als musikhistorischen Terminus verstandene - Motiv. Der formale Aufbau des Stücks entstand erst beim Schreibprozeß selbst; er war nicht vorherbestimmt. So reihen sich in Secure the shadow... sieben Abschnitte unterschiedlicher Länge aneinander. Auch wenn sie den Fluß der Komposition nicht unterbrechen, sind sie doch für den Zuhörer erkennbar.

Die fünf Instrumente teilen sich in zwei Streicher (Cello und Violine), zwei Bläser (Tenorsaxophon und Trompete) und Schlagzeug. Die Hierarchie zwischen den Instrumenten ist klar festgelegt: die hauptsächlich mit Doppelgriffen Klangflächen erzeugenden Streicher bilden den Hintergrund, darüber agieren die Bläser. Die zentrale Rolle kommt dem Schlagwerk zu. Die Positionierung der Musiker am Podium unterstreicht zusätzlich die Aufgabenverteilung unter den Musikern: Tenorsaxophon und Kontrabass rechts, Trompete und Cello links vom Schlagwerk. Diese Aufstellung erweckt aber auch den Eindruck einer Zeremonie, eines Trauermarsches, der von den beiden Bläsern und dem Schlagzeug heraufbeschworen wird. Ein Marche funèbre unter dem nachhaltigen Eindruck der Totenbilder. (Marie-Therese Rudolph)

Wolfgang Suppan (* 1966 in Vöcklabruck)
Ausbildung: Schlosserlehre in Frankenburg . Abendschule für Berufstätige . MHS Wien: Tonsatz (Dietmar Schermann), Komposition (Dieter Kaufmann, Michael Jarrell); Diplom 1995 . Kurse bei George Crumb, Paul-Heinz Dittrich, Klaus Huber . Teilnahme am 1. Internationalen Meisterkurs für Komposition in Zeuthen/Berlin . 1995 Sommerakademie am IRCAM Paris. Tätigkeiten: seit 1996 MHS Wien: Lehrauftrag/Assistenz an der Lehrkanzel für Komposition (Michael Jarrell). Auszeichnungen: 1991 Stipendium des Brandenburgischen Colloquiums für Neue Musik . Stipendium der Alban-Berg-Stiftung . 1994 Preisträger beim Casablanca Kompositionswettbewerb des Musikprotokolls im steirischen herbst Graz . 1995 Förderungspreis der Theodor-Körner-Stiftung . 1998/99 Stipendium der Akademie Schloß Solitude/Stuttgart


Dieter Mack
Bulan
für Englischhorn und Bassklarinette (1990)

Bulan ist ein Duett für zwei - eher im orchestralen Zusammenhang als solistisch verwendete - Instrumente. Gerade deswegen schienen sie mir für einen Dialog im übertragenen Sinne gut geeignet. Das kurze Stück basiert auf relativ strengen Prinzipien, die einer sprachlichen Auseinandersetzung nachempfunden sind, ohne daß man diese kennen muß. Bestimmte zwischenmenschliche Beziehungen als Ausgangspunkt musikalischer Vorgänge oder Prozesse spielen in meiner Musik immer wieder eine wesentliche Rolle. Sie verstehen sich durchaus als eine Reaktion auf die wachsende Entfremdung und "Anonymisierung" (z.B. Pseudodialoge in chat-rooms anstatt direkte Auseinandersetzung) der Menschen, - wie auch in der Kunst. (Dieter Mack)

Dieter Mack (* 1954 in Speyer)
Ausbildung: 1975-80 Musikhochschule Freiburg: Komposition (Klaus Huber, Brian Ferneyhough), Musiktheorie (Peter Förtig), Klavier (Rosa Sabater). Tätigkeiten: 1977-81 Assistent am Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWF . seit 1978 zahlreiche Studien-, Lehr- und Forschungsaufenthalte sowie Projekte in Indonesien, auf Bali, in Südindien und Japan . seit 1980 diverse Lehraufträge für Musiktheorie, Improvisation und Balinesische Musik an den Musikhochschulen Freiburg, Trossingen, Basel sowie an der Universität Freiburg . seit 1986 Professur für Musiktheorie an der Musikhochschule Freiburg. Auszeichnungen: 1980/81 Stipendiat der Heinrich-Strobel-Stiftung . 1990 1. Preis beim Olympus-Kompositionswettbewerb in Athen . 1991 Composer in Residence an der Victoria University Wellington/ Neuseeland


Iannis Xenakis
Dmaathen
für Oboe und Schlagzeug (1976)
UA: New York, Mai 1977: Post/Williams

Solistisches Musizieren ist - auf den ersten Blick - wahrlich keine Besonderheit neuer Musik. Immer schon und in allen Kulturen faszinierte Ausübende wie Zuhörende der Klang einzelner Instrumente und die besondere Fähigkeit Einzelner, ihn hervorzubringen, zu gestalten, ihm lebendige Form zu geben. Daher lassen sich weder die Fülle der auch nur in letzter Zeit für Oboe komponierten Stücke noch die modernen Möglichkeiten, die allein diesem Instrument heute zur Verfügung stehen, überblicken. Gerade in der Musik der letzten 50 Jahre haben - und das gilt für nahezu alle Instrumente - avancierte Klangvorstellungen der Komponisten einerseits und das entsprechende Interesse der Interpreten andererseits neues Terrain an Möglichkeiten des Oboenspiels erobert. Ungewöhnlich ist die Bedeutung des Interpreten in dieser Entwicklung, der mit Lust am Forschen die Grenzen traditionellen Spiels überwinden will. Gibt es ihn, dann wird es ihm an kompositorischen Angeboten nicht mangeln.

Iannis Xenakis' Dmaathen für Oboe und Schlagzeug ist ein überaus klangschönes, luzides und kontemplatives Stück. Die Musik des gebürtigen Griechen mit französischer Staatsbürgerschaft will nichts als präsent sein, will körperlich empfunden und von unbelasteten Sinnen empfangen werden. Gerade diese Komposition aus dem Jahr 1976 macht vergessen, daß sie nach Gesetzen und theoretischen Modellen der höheren Mathematik erfunden ist. Eher schon erinnert sie an Xenakis' Liebe zur Kultur und Kunst der griechischen Antike, denn manche melodische und rhythmische Wendungen scheinen aus folkloristischem Material bezogen; und als Ganzes imaginiert das Stück durchaus den Widerhall ritueller Tänze oder Gesänge, wie sie in ferner, archaischer Zeit mit Aulos-Spiel und farbig rhythmisierter Begleitung Wirklichkeit gewesen sein könnten. Dem Werk fehlt die orgiastische, ja bisweilen chaotische Gewalt der typischen Klangsprache Xenakis', wie sie vor allem in den großen Orchesterwerken begegnet, befremdet und schockiert. Hier dominiert nicht entfesselte Leidenschaft, sondern gebändigtes Spiel und kammermusikalische Feinarbeit, obwohl das Schlagwerk mit drei Bongos, drei Kongas, Großer Trommel, Tam-Tam, Xylorimba und Vibraphon zu massivem, flächigem Einsatz wohl befähigt wäre. (Quelle: Frank Schneider)

Iannis Xenakis (* 1922 in Braila/Rumänien).
Griechischer Abstammung . 1932 Übersiedelung nach Griechenland . seit 1947 politisches Asyl in Frankreich . 1965 Französische Staatsbürgerschaft, lebt in Paris . Ausbildung: Polytechnisches Institut Athen; 1947 Ingenieursdiplom . 1950-53 Paris: Komposition (Olivier Messiaen) . 1950-53 Gravesano: Komposition (Hermann Scherchen) . 1947-60 Mitarbeit als Bauingenieur und Architekt bei Le Corbusier. Tätigkeiten: 1958 Planung des Philips-Pavillons für die Brüsseler Weltausstellung (auf Berechnungsgrundlagen von Metastaseis) . zahlreiche architektonische Arbeiten . 1965 Gründung des Équipe de mathématique et d'auto-matique musicales (EMAMu, seit 1972 CMAM) . 1967 Gründung eines Zentrums für mathematische und automatische Musik an der Indiana University / Bloomington . 1967-72 Associate Music Professor an der Indiana University/Bloomington . 1970 Mitglied des Centre national de Recherche Scientifique (CNRS) . 1972-89 Professur an der Universität von Paris I/Sorbonne . 1975 Gresham Professor of Music an der City University London . 1975 Mitbegründer des Pariser IRCAM (1981 Rückzug von der Mitarbeit) . Erarbeitung eines Computersystems (UPIC) zur Umsetzung von Zeichnungen in Musik.


Günter Steinke
Nachklang

für Baritonsaxophon, Schlagzeug und Kontrabass (1990)
UA: Stuttgart, 16. November 1990: Kientzy/Dierstein/Güttler

Nachklang entstand 1990 anläßlich der Eröffnung der Akademie Schloß Solitude in Stuttgart. Der Titel beschreibt bereits einen wesentlichen Aspekt des musikalischen Verlaufs: "Nachklang" als Reduktion eines musikalischen Ereignisses. In diesem Stück wird ein in sich vielgestaltiger Abschnitt von ca. drei Minuten Dauer in drei zunehmend reduzierten und geräuschhaften Versionen kommentarisch wiederholt, bis von der ursprünglich sehr dichten Musik nur noch ein leiser Hauch als Nachklang übrigbleibt. Durch diesen Prozeß werden die Töne und geräuschhaften Ereignisse in veränderte Zusammenhänge gestellt und erfahren dadurch in der Feinstruktur unterschiedliche Bedeutungszuweisungen, die den eigentlich strophischen Aufbau als einen kontinuierlichen Zeitverlauf erklingen lassen. (Günter Steinke)

Günter Steinke (* 1956 in Lübeck)
Ausbildung: 1975-83 Lübeck und Köln: Schulmusik und Germanistik . 1984-88 Freiburg: Komposition (Klaus Huber), Musiktheorie (Peter Förtig), elektronische Musik (Mesias Maiguashca). Tätigkeiten: 1996-99: Lehrauftrag an der Musikhochschule Bremen . seit 1999 Gastprofessur an der Universität Bremen . Auszeichnungen: 1988 Stipendienpreis der Darmstädter Ferienkurse . 1989 Stipendium der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks . 1990/ 91 Stipendiat der Akademie Schloß Solitude Stuttgart . 1998 Portrait-CD in der Reihe Edition Zeitgenössischer Musik des Deutschen Musikrates


Wolfram Schurig
Battaglia
für Posaune und Ensemble (1999) - Urauführung
Kompositionsauftrag des SCHÖMER-HAUSES

Die Marginalisierung eines Genres wie der Battaglia durch die Musikgeschichtsschreibung mag aus heutiger Sicht wohl jedem einleuchten: zu offensichtlich zeigt sich hier allem Anschein nach eine bestenfalls aus stilistisch-idiomatischer Sicht aufschlußreiche Manifestation klanglicher Drastik, die zwar typisch barock, im übrigen aber folgenlos geblieben ist. Darüber hinaus sollte man allerdings bedenken, daß musikalische Innovation und somit ihre geschichtliche Bedeutung dort festgeschrieben wird, wo sie durch technische Prozesse beschrieben werden kann. Ist das nicht oder nur bedingt möglich bzw. wurde darauf schlichtweg vergessen, bedeutet das noch lange nicht, daß musikalisch evidente Tatbestände abseits des begrifflich Fixierten nicht dennoch existieren. Das gilt umso mehr, als in diesem Fall die Sicht auf die eigentlichen kompositorischen Fragestellungen durch ein vorangestelltes außermusikalisches Programm verstellt bleibt. Fraglos sind die innovativen Tendenzen der barocken Programmusik hinsichtlich der Erweiterung, bisweilen auch Sprengung, der klanglichen und technischen Möglichkeiten des Instrumentalspiels gewürdigt worden. Als Komponist muß ich mich allerdings fragen, ob die Reduktion dieser Errungenschaften auf ihren rein klangmalerischen Aspekt nicht zu kurz greift angesichts des augenscheinlich immensen kreativen Potentials solcher klanglicher Erneuerungen. Das Außerkraftsetzen aller Regeln des Kontrapunkts in Bibers "liderlicher Gesellschaft" oder die Verwandlung des Violinbogens in einen Trommelstock bei Farina kann doch wohl schwerlich allein als klanglicher Nachvollzug einer programmatischen Vorgabe erklärt werden! Dürfen wir nicht vielmehr annehmen, daß die ausufernde klangliche Phantasie nach Artikulationsmöglichkeiten, nach Ordnungskriterien sucht und sie über den Umweg ihrer äußeren, bildhaften Beschreibung findet? Ist also nicht eher das Programm der notdürftige Versuch, musikalisch Unfaßbares zu kommentieren, vielleicht auch den Schrecken über das Unerhörte zu mildern, als umgekehrt der aufbrechende Klang die kümmerliche Imitation eines naturalistischen Geschehens?

In Battaglia geht es mir zunächst darum, aus diesen grundsätzlichen Beobachtungen spezifische Fragestellungen zu extrahieren, die potentiell in ihrer kompositorischen Beantwortung ästhetisch wirksam werden können. Dies geschieht dann, wenn die Fragestellung explizit eine kompositorische Aufgabe formuliert, die es ermöglicht, ein beschreibbares technisches Verfahren zu entwickeln. (Diese Vorgangsweise unterscheidet sich insofern grundsätzlich vom seriellen Ansatz, als sie nicht von einer neutralen parametrischen Materialebene ausgeht, sondern die Implikationen eines bestehenden Genres in die Grundvoraussetzungen miteinbezieht.) Einige Fragen im einzelnen: Inwieweit besteht ein Zusammenhang zwischen der Trivialität von Klischees und der Komplexität ihres klanglichen Erscheinungsbildes? Welches sind die Eigenschaften dieser Klischees, die ihre Wirkung in bezug auf ihren programmatischen Hintergrund benennen (in der Battaglia sind dies etwa die Imitation verschiedener Formen militaristischer Klänge wie Trommelwirbel, Marschrhythmen, Signale ...)? Welches sind die Eigenschaften, die sie als autonome musikalische Bestandteile innerhalb eines kompositorischen Zusammenhanges definieren? Sind Klischees an ein spezifisches klangliches Erscheinungsbild gekoppelt, sind sie abstrahierbar oder bleiben sie in jedweder Darstellung als standardisierte Bedeutungsträger bestehen? Es leuchtet ein, daß die daraus entwickelten kompositorischen Strategien darauf abzielen müssen, die bestehende semantische Codierung des Ausgangsmaterials, die automatisch standardisierte und in der Regel verallgemeinernde Rezeptionsmuster mit sich bringt, mit seinen morphologischen Eigenschaften in Beziehung zu setzen. Die Abstrahierung dieser Eigenschaften von ihrer tradierten Bedeutung beschreibt einen kompositorischen Prozeß bzw. auf der Rezeptionsebene ein musikalisches Ge-schehen, worin den Eigenschaften innerhalb eines neu geschaffenen Kontexts bestimmte Funktionen zugewiesen werden. Insofern diese Funktionen sich auf die spezifischen musikalischen Situationen eines Werkes beziehen und auf sie reagieren, scheint mir auch die Transformation der Bedeutung morphologischer Eigenschaften möglich, nämlich weg von ihrer Verallgemeinerung, hin zum Situations- und Werkspezifischen. Dies setzt einerseits natürlich voraus, daß es sich bei morphologischen Eigenschaften um wahrnehmbare klangliche Qualitäten handelt; andererseits möchte ich betonen, daß ich unter musikalischer Bedeutung nicht irgendeinen formulierbaren Sinn verstehe - also kein begriffliches Phänomen -, sondern jene erlebbare Erscheinungsform von Klang, die sich durch ihre jeweilige Einzigartigkeit von allen andern unterscheidet. Es geht mir in Battaglia um dieses Neu-erlebbar-Machen ganz spezifischer klanglicher Identitäten und die Herstellung eines musikalischen Kontexts, der dies ermöglicht und nicht identisch ist mit dem historischen Kontext, dem sie entnommen sind. Die Reaktivierung eines verstaubten Genres wäre absurd. Ebenso absurd wäre es aber auch, anzunehmen, Innovation wäre möglich ohne das Substrat, aus dem sie sich nährt. (Wolfram Schurig)


Wolfram Schurig (* 1967 in Bludenz)
Ausbildung: 1987-89 Konservatorium Feldkirch: Musikerziehung (Blockflöte) . 1989-93 MHS Zürich: Komposition (Hans Ulrich Lehmann), Blockflöte (Kees Boeke) . 1992-95 MHS Stuttgart: Komposition (Helmut Lachenmann). Tätigkeiten: seit 1988 rege Konzerttätigkeit und Rundfunkproduktionen als Blockflötist (Schwerpunkt zeitgenössische Musik) . Gründungsmitglied einiger Ensembles . als Komponist regelmäßige Zusammenarbeit mit den wichtigsten Interpreten Neuer Musik (ensemble recherche, Klangforum Wien, Ensemble Avance Köln, SurPlus u.a.) . seit 1995 künstlerischer Leiter der Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik. Auszeichnungen: 1992 Preisträger beim Kompositionswettbewerb des WDR Köln . 1993 Stipendium der Villa Musica Mainz . Einladung zu den Darmstädter Ferienkursen . 1996 Plöner Hindemith-Preis.


Ausführende

Ensemble SurPlus

Gegründet 1992 in Freiburg im Breisgau . James Avery ist Künstlerischer Leiter . Zielsetzung ist die mustergültige Aufführung neuer oder unbekannter Kompositionen, wobei stilistische Einseitigkeit vermieden wird . Die Besetzung des Ensembles wechselt zwischen zwei und sechzehn Instrumenten.

Oboe: Peter Veale
Klarinette: Erich Wagner
Saxophon: Andreas Stark
Fagott: Artan Huersever
Trompete: Bernhard Ostertag
Trompete: Christoph Karle
Schlagzeug: Olaf Tzschoppe
Schlagzeug: Pascal Pons
Viola: Bodo Friedrich
Cello: Beverley Ellis
Kontrabass: Sven Kestel


James Avery: Dirigent

Geboren im US-Bundesstaat Kansas . Klavier- und Dirigierstudium an der Universität von Kansas und an der Indiana University (Bloomington) . Preisträger des Gaudeamus Wettbewerbs für Interpreten zeitgenössischer Musik . rege Konzerttätigkeit als Pianist und Dirigent . zahlreiche Platten- und CD-Einspielungen sowie Aufnahmen für Rundfunk und Fernsehen . Leitung des Ensembles SurPlus . seit 1980 Professur für Klavier (Freiburger Musikhochschule) . 1986-88 Gastprofessur an der Eastman School of Music/Rochester/New York


Michael Svoboda: Posaune

Geboren 1960 auf der Pazifikinsel Guam . aufgewachsen in Chicago, dort zunächst als Jazz-Posaunist erfolgreich tätig (1978: Louis Armstrong Award) . Kompositions- und Dirigierstudium . 1981 Kompositionspreis: England- und Deutschlandaufenthalt . 1986 Abschluß des Meisterstudiums im Fach Posaune in Stuttgart . vielseitige Konzerttätigkeit und Festivalauftritte in aller Welt (Holland Festival, Festival d'Automne Paris, Frankfurt Feste, Wien modern, Donaueschinger Musiktage, Wittener Tage für Neue Kammermusik, Akiyoshidai Festival Japan u.a.) . direkte Zusammenarbeit mit Komponisten wie Karlheinz Essl, Peter Eötvös, Manuel Hidalgo, Toshio Hosokawa, Helmut Lachenmann, Benedict Mason, Mathias Spahlinger, Karlheinz Stockhausen und Frank Zappa . Uraufführung von mehr als 200 ihm gewidmeten Werken . als Solist Zusammenarbeit mit namhaften Orchestern (u.a. Ensemble Modern, Schönberg Ensemble, Gürzenich Orchester Köln, Sinfonieorchester des Bayrischen Rundfunks, des Südwestfunks und des Westdeutschen Rundfunks) . Arbeit mit Quartett Avance und in verschiedenen Jazz- und Improviser Groups . Auftritte in Stockhausens Opern-Zyklus LICHT (Rolle des Luzifer am Royal Opera House Covent Garden, der Mailänder Scala und der Oper Leipzig) . zahlreiche CD-Einspielungen. Internet: www.mikesvoboda.html
1 / 1
Impressum