a la recherche du temps perdu

Ensemble Recherche (Freiburg)

a la recherche du temps perdu

Ensemble Recherche (Freiburg)
Sa, 15.02.1997, 20:00 Uhr

Das Schömer-Haus

Die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte und Vergänglichkeit scheint der Musik - als Zeitkunst par excellence - von jeher als Diktum eingeschrieben zu sein.
Die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte und Vergänglichkeit scheint der Musik - als Zeitkunst par excellence - von jeher als Diktum eingeschrieben zu sein. Seit ihren frühesten Anfängen, als es nur mündliche Überlieferung gab, mutierte das Tradierte durch Neuformulierungen und Erweiterungen, die (wie am Beispiel der Gregorianik zu sehen ist) schließlich die gesellschaftlich vorgegebenen Rahmenbedingungen sprengten. Die Entwicklung der abendländischen Musik ist von der Dialektik zwischen Bezugnahme und Fortschritt, zwischen Nachahmung und Entfernung geprägt, und da macht selbst die Neueste Musik keine Ausnahme, selbst wenn man ihr dies nicht gleich anhört.

Dieser Auseinandersetzung mit der "verlorenen Zeit", der einst auch Marcel Proust seismographisch nachgespürt hatte, ist dieser heutige Abend gewidmet. Verschiedene Komponisten unserer Tage, aus ganz unterschiedlichen künstlerischen und geographischen Kontexten stammend, spüren auf ihre persönliche Weise dem Phänomen der verlorenen Zeit nach, die nun eben nicht durch bloße Restaurierung wiederbelebt, sondern nur in einer originären Neuschöpfung (deren Hintergrundfolie sie gleichsam darstellt) in die Gegenwart hinübergerettet werden kann.

Kontrapunktiert werden diese Neuschöpfungen mit fast in Vergessenheit geratener "Alter Musik": dem instrumentalen Spätwerk Palestrinas, ausgegrabene Kontrafakturen zu einer berühmten Ballata John Dunstable's, einer durch ihre Bearbeitung potenzierte kompositorische Problemstellung eines vornamenlosen Mr. Picforth, und schließlich - als Abgesang auf den unwiederbringlichen Verlust einer "verlorenen Zeit": Dufay's "adieu m'amour" und ihre Interpolation durch Mathias Spahlinger.

Dr. Karlheinz Essl
Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES




Programm


Giovanni Pierluigi da Palestrina - (1515 - 1592)

Ricercar del quarto tuono
instrumentiert für Flöte, Klarinette, Viola und Violoncello


Gottfried Michael Koenig (* 1926)

60 Blätter (1992)
für Streichtrio
»Österreichische Erstaufführung«


John Dunstable (1380 - 1453) / Karlheinz Essl (* 1960)

O rosa bella (ca. 1440 / 1981 - 1996)
Bearbeitung für Streichtrio und Bläsertrio
»Uraufführung«


Beat Furrer (* 1954)

Trio (1985)
für Flöte, Oboe und Klarinette


Picforth (16. Jhdt.) / Johannes Schöllhorn (* 1962)

in nomine (ca. 1570 / 1994)
Bearbeitung für Streichtrio
»Uraufführung«


Gérard Pesson (* 1958)

Récréations françaises (1993 - 95)
für Flöte, Oboe, Klarinette und Streichtrio
»Österreichische Erstaufführung«


Guilleaume Dufay (ca. 1400 - 1474)

adieu m'amour (ca. 1440)
dreistimmige Chanson / Instrumentation: Karlheinz Essl


Mathias Spahlinger (* 1944)

adieu m'amour - hommage à guilleaume dufay (1982/83)
für Violine und Violoncello



Ausführende

Ensemble Recherche

Flöte: Martin Fahlenbock
Oboe: Jacqualine Burk
Klarinette: Uwe Möckel
Violine: Melise Mellinger
Viola: Barbara Maurer
Violoncello: Lucas Fels



Werke & Komponisten

Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594)
Chorknabe in Rom, später Organist und Kapellmeister in seiner Heimatstadt Palestrina, dann Kapellmeister an der päpstlichen Capella Giulia in Rom, schließlich Mitglied des Sängerkollegiums der Sixtinischen Kapelle. Die im "Tridentiner Konzil" erwogene Verbannung der mehrstimmigen Musik aus dem Gottesdienst wurde durch Palestrinas würdevollen, die Textverständlichkeit berücksichtigenden Stil wieder verworfen. Seitdem gilt er als Vorbild für die katholische Kirchenmusik. Zeit seines Lebens hat Palestrina ausschließlich Vokalwerke (Messen, Motetten, Madrigale) komponiert, mit Ausnahme der Ricercari sopra li tuoni, bei denen seine Autorenschaft auch angezweifelt wird.



Gottfried Michael Koenig (* 1926)
wurde in Magdeburg geboren und studierte zunächst Kirchenmusik in Braunschweig, dann Komposition bei Günther Bialas in Detmold. Im Anschluß daran folgten weiterführende Studien an der Musikhochschule in Köln sowie Informatik an der Universität in Bonn. 1954-64 war Koenig ständiger Mitarbeiter im Elektronischen Studio des WDR, wo er auch als Assistent Karlheinz Stockhausens wirkte. 1964-86 wirkte er als Leiter des "Instituts für Sonologie" der Universität Utrecht, wo er bahnbrechende Forschungen auf dem Gebiet der Computermusik (algorithmische Komposition, Klangsynthese) leistete. 1987 wurde Koenig für sein Gesamtwerk mit dem Vermeulen-Preis ausgzeichnet.

In seiner Komposition 60 Blätter für Streichtrio - 1992 komponiert und dem Freund Heinz-Klaus Metzger gewidmet - artikuliert Gottfried Michael Koenig eine Dialektik zwischen Determiniertheit und Zufall, die ihn seit den späten fünfziger Jahren beschäftigt. Diese Dialektik spielt sich zunächst innersten Stadium der kompositorischen Arbeit ab, wo ein Computer als Normengeber und Zufallsgenerator eingesetzt wird. Zweitens wirkt Aleatorik auf der Ebene der Form; den Interpreten ist Anzahl und Reihenfolge der Blätter überlassen, die sie spielen. Es gibt eine dritte Dimension, die der Bestimmtheit der Schrift nicht ganz unterworfen ist: die Temposchwankungen der Interpretation, rhythmische Freiheit und relative Deutung der dynamischen Zeichen sind zugelassen, ja sogar erwünscht.

Dr. Ulrich Mosch



John Dunstable (um 1380 - 1453)
Englischer Komponist Mathematiker und Astronom. Über seine Person ist wenig bekannt. Möglicherweise lebte er im Gefolge des Herzog von Bedford längere Zeit in Frankreich. Als Komponist wurde er von seinen Zeitgenossen außerordentlich geschätzt und hatte starken Einfluß auf die erste Generation der sog. "Alten Niederländer" um Dufay. Die ihm entgegengebrachte Wertschätzung verklärte ihn zu einer mystischen Figur; manchen Spätgeborenen galt er (fälschlicherweise) sogar als der eigentliche "Erfinder des Kontrapunkts". Sein Ruhm war bereits zu Lebzeiten so hoch, daß ihm Werke zugeschrieben wurden, die er höchstwahrscheinlich nie geschrieben hatte. Der Name "Dunstable" fungierte offenbar als Markenzeichen für "Neue Musik made in England" mit ihrer klangsinnliche Satztechnik, dabei aber dennoch reich an konstruktiven und symbolischen Bezügen.

Karlheinz Essl (* 1960)
studierte an der Wiener Musikhochschule Komposition bei Friedrich Cerha und Kontrabaß bei Heinrich Schneikart. An der Universität Wien absolvierte er das Studium der Musikwissenschaft und promovierte 1989 mit einer Dissertation über "Das Synthese-Denken bei Anton Webern". Zunächst Kontrabassist in verschiedenen Kammermusik- und Jazz-Formationen. Als Komponist beschäftigte er sich eingehend mit mittelalterlicher Musik. Sein besonderes theoretisches Interesse gilt der Formalisierbarkeit musikalischer Prozesse und der kompositorischen Aufarbeitung serieller Denkansätze. Er unterrichtet «Computermusik» am "Studio for Advanced Music & Media Technology" des Linzer Bruckner-Konservatoriums und ist Musikintendant des SCHÖMER-HAUSES Klosterneuburg. Nach dem Performanceprojekt Partikel-Bewegungen mit dem «Sprayer von Zürich» Harald Naegeli realisierte Essl 1992/93 einen Kompositionsauftrag am IRCAM in Paris und war mehrfach "composer in residence" bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Ihm sind in dieses Jahr zwei Portraitkonzerte bei den Salzburger Festspielen gewidmet.

O rosa bella (1981/96) - Uraufführung
Eine komponierte Realisation nach John Dunstable et al.


Beat Furrer (* 1954)
wurde in schweizerischen Schaffhausen geboren. 1975 übersiedelte er nach Wien, wo er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Komposition bei Roman Haubenstock-Ramati und Dirigieren bei Othmar Suitner studierte. 1984 war er Preisträger des Kompositionswettbewerbs "Junge Generation in Europa" und gründete im Jahr darauf die "Société de l'Art Acoustique", aus der später das "Klangforum" hervorging. 1989 wurde seine Oper Die Blinden (nach Maeterlinck und Platon) als Auftragswerk der Wiener Staatsoper uraufgeführt, seine zweite Oper Narcissus erfuhr ihre Premiere anläßlich des Grazer "Musikprotokolls '94". Seit 1992 hat Beat Furrer eine Kompositionsprofessur an der Musikhochschule in Graz inne. 1996 war ihm ein Komponistenportrait bei den Salzburger Festspielen im Rahmen von "Next Generation" gewidmet; darüber hinaus wirkte als "composer in residence" bei den Luzerner Festwochen.

Furrers Trio (1985)
für Flöte, Oboe und Klarinette ist ein Zitat aus Georg Büchners "Lenz" vorangestellt:

"...er wurde still, vielleicht fast träumend: es verschmolz ihm alles in einer Linie, wie eine steigende und sinkende Welle, zwischen Himmel und Erde, es war ihm, als läge er an einem unendlichen Meer, das leise auf und ab wogte.."

Das Werk basiert auf auseinanderstrebenden Klängen, einer Idee, die sich über alle drei Abschnitte erstreckt. Parallel dazu vollzieht sich auf der Ebene der Klangfarbe eine lineare Entwicklung vom Vollklang zum "Luftklang" und vom strikten formalen Aufbau zu interpretatorischer Freiheit. Diese wird im zweiten Abschnitt angedeutet und erhält ihre endgültige Ausprägung im dritten, wo die Instrumentalisten an bestimmten Schnittstellen zwischen den Notenzeilen und damit zwischen den musikalischen Ebenen wechseln können. Auf diese Weise sind alle Ebenen zugleich anwesend und haben dadurch das Zeitgefühl auf.

Dr. Barbara Boll



Johannes Schöllhorn (* 1962)
studierte bei Klaus Huber, Emanuel Nuñes und Mathias Spahlinger Komposition und bei Peter Förtig Musiktheorie. Er erhielt mehrfach Preise und Auszeichnungen bei Kompositionswettbewerben und war Stipendiat der Heinrich Strobel-Stiftung des Südwestdeutschen Rundfunks, der Gaudeamus Foundation (Amsterdam) und der Kunststiftung Baden-Württemberg. Als Dirigent leitete er zahlreiche Konzerte und Rundfunkaufnahmen und war mehrfach Dozent der Jungen Deutschen Philharmonie. Er unterrichtet an den Musikhochschulen Winterthur und Freiburg.

Im I. Band der "Elisabethian Consort Music" erscheint unter der Nummer 57 eine außergewöhnliche Bearbeitung des bekannten "in nomine"-Cantus firmus, - ausgeführt von einem gänzlich unbekannten Komponisten des 16. Jahrhunderts, von dem nicht einmal der Vorname überliefert ist: Picforth. Der "in nomine"-Cantus firmus zeichnet sich dadurch aus, daß er durchwegs aus gleichlangen Notenwerten und zusätzlich oft repetierten Tonhöhen besteht, also für den Komponisten eine erhebliche Herausforderung der Phantasie bedeutet. Picforth steigert das Problem steigert das Problem nicht nur dadurch, daß er jede der vier hinzutretenden Stimmen ebenfalls immer in gleichen Notenwerten spielen läßt, sondern er schichtet die Werte auch progressiv übereinander, das heißt (in heutige Werte übertragen):

I "Viertel"
II "punktierte Viertel"
III "Halbe"
c.f. "Ganze"
V "punktierte Halbe"

Diesem quasi vertikalen Ritardando habe ich in der Bearbeitung ein horizontales hinzugefügt, das, je nach Temposituation (von äußerst schnell zu äußerst langsam), die Gesamtgestalt immer wieder neu und anders erscheinen läßt, obwohl die Strenge der Vorlage nun auch noch im Tempo eingeengt wurde. - "in nomine" ist Harry Vogt gewidmet.

Johannes Schöllhorn



Gérard Pesson (* 1958)
studierte Literaturwissenschaften und Musikwissenschaft an der Sorbonne sowie Instrumentation, Analyse und Komposition am Conservatoire National Supérieur de Musique in Paris. 1986 gründete und leitete er eine Entretemps genannte Konzertreihe mit Neuer Musik. Zwischen 1985 und 1990 arbeitete er als Produzent für "France Musique". Für seine Kammeroper Beau soir wurde er beim Opernwettbewerb von Villeneuve-lez-Avignon ausgezeichnet. Eine szenische Aufführung dieses Werkes erlebte 1990 beim Straßburger Musikfestival "Musica" seine Uraufführung. Darüber hinaus gewann er noch weitere Preise, arbeitete mit den verschiedensten französischen und deutschen Ensembles zusammen und lebte zwischen 1990 und 1992 als Stipendiat in der "Villa Medici" in Rom.

Boulez, das Überich jedes französischen Komponisten, hat einmal gesagt, daß er sich "lieber in kleine Stücke hacken lassen würde, als zuzugeben, daß es eine französische Tradition in der Musik gäbe." Wir denken alle das Gegenteil. Unsere Sichtweise ist, daß die französische Musik zwar im Laufe ihrer Geschichte keine universellen Kategorien aufstellen konnte, sich eine gewisse umgangssprachliche Einheit aber bewahrt hat, die ihre Ausprägung in dem Dreigestirn Fauré - Debussy - Ravel fand. Ich selbst habe mich lange für unbeugsam französisch gehalten, wegen Proust, der mich gebildet hat, wegen der Provinz, aus der ich stamme und die genau im Zentrum des Landes liegt, und weil ich früh ein Anhänger jenes Dreifaltigkeit war, die dann am Ende meiner Jugend von der Wiener Trias entthront wurde. Doch ich muß zugestehen, daß ich eigentlich, wie viele Musiker, tagtäglich mit der deutschen Kultur und der deutschen Musik Umgang pflege.

Diese "Bagetellen", als Auftrag für das "Ensemble Recherche" in Budapest, Rom und dem chinesischen Viertel von Paris komponiert (um eine Entfremdung zu garantieren) reflektieren über all dies, über den Meridian Deutschland - Frankreich, der unsere Musik durchquert: träumerisch und mit Ironie.

1. L'Harmonieux forgeron [Der harmonische Grobschmied]
Unter dem Vorwand, ein Stück von Händel zu zitieren, rufe ich einen anderen, in Deutschland wohlbekannten Schmied in die Erinnerung zurück.

2. Solo de clarinette (un souffle) [Klarinette solo - ein Hauch]
Die drei Bläser sollen in diesen Stücken absolut solistisch sein, doch hat sich das Material so herauskristallisiert, daß sie als Solisten nur noch in den Titeln erscheinen.

3. Effet de nuit sur Klosterneuburg [Nachtstück in Klosterneuburg]
Hier also das post-impressionistische Bildchen, das in jedes französisches Stück hineingehört. Der Ortsname soll bei jeder Aufführung durch den der Stadt ersetzt werden, wo das Stück gespielt wird.

4. Les barrcades mistérieuses (vivement) [Die geheimnisvollen Barrikaden (lebhaft)]
Es wird auch jedesmal ein homophones Stück benötigt. Hier ist es eine Reihe von elf Akkorden unterschiedlicher Dichte, die siebenmal wiederholt und jedesmal anderes instrumentiert wird. Der Titel stammt übrigens von Couperin.

5. Solo des hautbois (une tierce) [Oboensolo (eine Terz)]
Der Oboist könnte mit gutem Recht etwas verärgert sein, da die Präsenz in diesen Stücken etwas - sagen wir - gespensterhaft ist. Er spielt in den Stücken 2 und 8 überhaupt nicht, und in den Bagatellen 1, 6 und 9 noch dazu ohne Rohrblatt (sodaß nur ein kaum hörbarer Hauch entsteht). In seinem Solo spielt er nur zwei Tonhöhen.

6. Knochenmusik
Man kann zur Quelle des Instrumentalklanges gelangen, indem man nur die Geste betrachtet, die den Ton produziert und das Medium eliminiert, das ihn uns hörbar macht: den Atem einerseits, andrerseits den Streichbogen. So entsteht hier eine "spektrale" Musik: ein Spektrum ohne Fleisch, sozusagen eine Musik nach dem Hören, nur ihr Gebeine.

7. Hommage à Claire-Jeanne Jézéquel (deux notes) [Hommage ... (zwei Noten]
Ich habe dieses Stück während der Vorstellung der Seneca-Tragödie "Thyest" konzipiert, für die ich mich nicht zu interessieren vermochte. Das mag ein Umstand ohne Bedeutung sein, aber wer weiß... In diesem etwas unbeholfenen Stück versuche ich, die Kunst einer jungen Bildhauerin zu erreichen, bei der ich die Leichtigkeit bewundere, mit der sie unbewegliche, weiße, fast unbemerkbare Objekte herstellt. Eine Kunst volle Abwesenheit und Stille, die den Raum entlangfährt und ihn unterstreicht, die Grenze dessen, was wir begehen und verstehen können.

8. Solo de flûte (un sifflet lointain) [Flötensolo (ein entfernter Pfeifton)]
Die Flöte spielt in sog. "whistle tones" und die Streicher in dem Bereich der Saite, den einer meiner Interpreten einmal "das ewige Kolophonium" nannte. Eine Melodie aus der Ferne (wo die gepfiffenen Flageolette fast brechen), der die geflöteten Antiphonien der Streicher antworten.

9. Petite danse macabre (und E.D. ist auch dabei...) [Kleiner Totentanz]
Dieses Stück ist eine Art Miniaturausgabe eines anderen Sextetts (Le Gel, par jeu), das der leuchtenden todesgesättigten Welt der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson gewidmet war (die ich für eine der größten Dichter aller Zeiten halten). Ich habe diese "Replik" nicht geschrieben, um zu schummeln oder Zeit zu gewinnen, sondern um folgendes festzuhalten: daß wir immer die gleiche Musik schreiben.

Gérard Pesson



Guilleaume Dufay (ca. 1400-1474)
Chorknabe in Cambrai, Diakon und Priester in Bologna, päpstlicher Kapellsänger in Rom, Kaplan des Herzogs von Burgund. Galt bereits zu Lebzeiten als einer der wichtigsten Komponisten. Er war wesentlich am tiefgreifenden Stilwandel um die Mitte des 15. Jhdts. beteiligt, der auf eine polyphone Gleichberechtigung aller Stimmen und klangliche Finesse hinarbeitete.

Mathias Spahlinger (* 1944)
Lernte bereits als Kind die Musik des Mittelalters und der Renaissance kennen und spielte später als Saxophonist in verschiedenen Jazzclubs. Nach einer Schriftsetzerlehre absolvierte eine Musiklehrerausbildung und arbeitete als Lehrer an der Stuttgarter Musikschule. In dieser Zeit studierte er Komposition bei Erhard Karkoschka. 1978-81 unterrichtete er Musiktheorie an der Berliner Hochschule für Künste, später in Karlsruhe. Seit 1990 hat Spahlinger Kompositionsprofessur an der Musikhochschule in Freiburg / Br. inne.

"adieu m'amour": liebe als abschied von der liebe, die zu besitzen vermeint; vom willen, der fremdes eigenleben sich gleichmacht; von einer tradition, die als sich entfernende schmerzlich erfahren wird.

auf weit heruntergestimmten darmsaiten, die an sich schon einen besonders sensiblen bogenstrich erfordern, kommen in großer zahl ungewöhnliche spieltechniken zur anwendung (bogenstrich oberhalb der griffhand - mehrklänge durch streichen im schwingungsknoten - der mit etwas überhöhten bogendruck tangierte teil der saite wird zum erklingen gebracht - eine erweiterte "fawsett"-flageolett-technik, die eine genaue und gleichbleibende bogenführung an ganz bestimmten stellen der saite erfordert usw.; spieltechniken, die allesamt sehr empfindlich sind) in dem bestreben, die durch lange übung und beherrschung der gewöhnlichen spielarten ins unbewußte abgesunkene leistung der dialektischen bewegung zwischen sensibler aufmerksamkeit auf die akustisch-mechanischen eigenschaften des instruments und aktiver/ reaktiver anpassung des spielers wieder fürs bewußtsein zu aktualisieren: die fähigkeit, fremd-vertrautes nach eigenen gesetzen leben zu lassen, zum eigenen willen in "immer freiern und innigern zusammenhang" (hölderlin) zu bringen. vereinzelte töne ziehen, durch den großen spieltechnischen aufwand und die umständliche rücksicht, mit der sie vorgetragen werden, ihre ganze aufmerksamkeit auf sich, lösen sich mit sanfter eigenmächtigkeit aus ihrem übergeordneten zusammenhang (dufays "adieu m'amour"), wie die liebe ihre vernunft darin hat, überm individuellen die forderung der vernunft, die aufs allgemeine aus ist, zu vergessen; sie signalisiert zugleich zerstückelung, teilung, trennung und sind gemeint als verbeugung vor einer geliebten tradition, an die wir nicht heranreichen, die sich dem besitzerischen zugriff entzieht, sich nicht rekonstruieren läßt.

mathias spahlinger



Ausführende

ensemble recherche

Das ensemble recherche wurde 1984 als Solistenensemble gegründet, dessen Repertoire sich vor allem auf die Musik des 20. Jahrhunderts (ausgehend von Werken der klassischen Moderne und verschollen geglaubten Stücken der 20er und 30er Jahre) konzentriert. Ein besonderes Anliegen ist dem Ensemble die intensive Zusammenarbeit mit Komponisten und die Anregung von neuen Werken. Neben Auftritten bei internationalen Festivals hat das ensemble recherche unzählige Rundfunkaufnahmen und CD's eingespielt. Zahlreiche Preise wie der Schneider-Schott-Musikpreis zeugen von der wachsenden Anerkennung.


Melise Mellinger
Geigenstudium in Freiburg und Amsterdam. 1982 Kranichsteiner Musikpreis. Mitbegründerin des ensemble recherche.

Barbara Maurer
Bratschenstudium in Freiburg, Siena und London. 1986 Kranichsteiner Musikpreis. Solistische Tätigkeit, spielt seit 1989 im ensemble recherche.

Lucas Fels
Violoncellostudium in Basel, Zürich, Freiburg und Amsterdam. Solistische und kammermusikalische Tätigkeit. Gründungsmitglied des ensemble recherche.

Martin Fahlenbock
Flötenstudium in Hamburg. Anfänglich Flötist der Jungen Deutschen Philharmonie, Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern, seit 1991 beim ensemble recherche.

Jacqualine Burk
Obenstudium in Texas, Rochester und Frankfurt. Zusammenarbeit mit verschiedenen Orchestern und dem Ensemble Modern, seit 1994 beim ensemble recherche.

Uwe Möckel
Klarinettenstudium in Freiburg und Frankfurt. Mitglied der Deutschen Kammerphilharmonie und des Frankfurter Opernorchesters, seit 1989 beim ensemble recherche.
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